Bürger

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englisch: Citizen, burgher; französisch: Bourgeois, citoyen; italienisch: Borghese, cittadino.


Erich Keyser (1951)

RDK III, 174–178


1. Begriff

Die B. bildeten einen rechtlich fest umgrenzten Teil der Bevölkerung der deutschen Städte. Es waren jene Personen, die entweder als Söhne oder als Zuwanderer das B.recht unter folgenden Voraussetzungen erworben hatten: Sie mußten als Freie geboren oder frei gelassen sein, sie mußten ehelich geboren sein, und ihre Eltern durften nicht einen unechten oder unehrlichen Beruf, wie die Spielleute und die Scharfrichter, ausüben. Sie mußten wehrfähig sein und die wichtigsten Schutz- und Trutzwaffen besitzen, sie mußten erwerbsfähig sein und ein bestimmtes Vermögen haben, sie mußten „deutscher Art und Zunge“ sein und dies wie ihre Abkunft urkundlich oder durch glaubhafte Zeugen nachweisen. Sie mußten schließlich Christen sein. Nur wer diese Voraussetzungen erfüllte, wurde in die B.bücher eingetragen, zum B.eid zugelassen und war berechtigt, an der B.versammlung teilzunehmen, in der Stadt Grundbesitz zu erwerben, Handel und Handwerk unbeschränkt auszuüben. Er war zum Wehrdienil verpflichtet. Wer jenen Forderungen nicht genügte, konnte nur als „Einwohner“ oder, was meist für Ausländer zutraf, als „Gast“ in der Stadt sich aufhalten. Innerhalb der Bürgerschaft wurden weniger rechtlich als sozial und familiär die Ratsfamilien und später auch die Honoratioren von den übrigen B. unterschieden; doch geschahen laufend Aufstieg und Abflieg zwischen diesen Gruppen, ebenso wie zwischen den Kaufleuten, den Handwerkern und den „Arbeitern“, unter denen die nicht Handel und Handwerk treibenden B. verstanden wurden. Außerhalb des B.rechts befanden sich meist die städtischen Beamten, wie die Ratssekretäre, die Ärzte, die Künstler, soweit sie nicht einer Innung angehörten, und auch die Geistlichen. Bei den großen Zunftkämpfen des 14. und 15. Jh. fanden starke Umschichtungen in der Bevölkerung der Städte statt, durch die andere Gruppen emporkamen. Dabei wirkte sich nicht selten die verschiedene stammliche Herkunft der einzelnen bürgerlichen Schichten aus. Denn während die wirtschaftlich und sozial unteren Gruppen überwiegend aus der Stadt selbst oder aus ihrer näheren Umgebung stammten, waren die oberen Schichten mit ihresgleichen in anderen, auch entfernten Städten verwandt, wie z. B. die Ratsfamilien der Hansestädte vielfach untereinander versippt waren. Auch die Träger akademischer Berufe kamen oft aus anderen Gegenden, besonders wurden Baumeister, Maler und Kunsthandwerker von auswärts herangeholt. Es ist daher bei der Beurteilung der bürgerlichen Kunst stets zu beachten, welchem Volks- und Stammestum die Bauherren, die Baukünstler und die Handwerker angehört haben und wie weit sich ihre Eigenart künstlerisch bekundet hat.

2. Entstehung und Ergänzung im späten Mittelalter

Das deutsche Bürgertum entstand mit den deutschen Städten aus der Bevölkerung älterer Marktorte, die schon seit dem 9. Jh. begegnen, und aus Zuwanderern in diese und in die auch unabhängig von ihnen neu gegründeten Städte. Es waren fahrende Kaufleute, Krämer, Handwerker, Angehörige des Verkehrsgewerbes und die Bediensteten des Stadtherren, die an der Wahrnehmung der Gerichtsbarkeit, des Münz- und Zollrechtes und anderer obrigkeitlicher Befugnisse beteiligt waren. Als solche sind in manche Städte anfangs Ministeriale und Mitglieder des niederen Adels eingewandert. Doch hatten diese nur örtlich und zeitweise eine größere Bedeutung. Ein sehr großer Teil der Neubürger kam aus anderen Städten, wie auch viele B. ständig in solche abwanderten. Etwa die Hälfte ergänzte sich aus der bäuerlichen Bevölkerung der Umgebung; die B.söhne stellten im 13. und 14. Jh. in Rostock 53%, in Köln 55%, in Danzig 50–59% der Neubürger, in Frankfurt a. M. 1387 66% und 1440 58%. Die Zuwanderer stammten meistens aus einem Umkreise von etwa 75 km, in Dortmund im 14. Jh. 88% aus Westfalen, in Hamburg 47% aus Holstein und 34% aus Niedersachsen, in Lübeck 23% aus Holstein, 18% aus Ostfalen und 21% aus Westfalen, in Thorn 20% aus Westdeutschland und 80% aus Ostdeutschland. In Soest, Dortmund und Frankfurt a. M. wurden im 14. Jh. jährlich 30–40 Neubürger aufgenommen, in Lüneburg um 1300 je 34, um 1350 je 63 und in den Jahren 1440–1605 12–21. Ungewöhnlich groß war die Zunahme der Bürgerschaft in Lübeck in der 1. H. 14. Jh. mit jährlich durchschnittlich 170 und in der Mitte desselben Jh. mit 200–300 Neubürgern. Die Kopfzahl der einzelnen Familien betrug nur 4–5 Personen. In den kleinen und mittleren Städten war jedes Haus nur von einer Familie bewohnt. In den großen Städten, wie Augsburg, Danzig und Köln gab es 2–3 Haushaltungen je Grundstück. Trotz hoher Geburtenziffern war die natürliche Vermehrung nur gering, da zwischen M. 14. Jh. und A. 18. Jh. die in jeder Stadt fast in jedem Jahrzehnt wiederkehrende Pest sehr große Opfer forderte: in Hamburg 1350 75% und 1367 25%, in Erfurt 1303 50%, 1315/16 75% und 1393 33%, in Köln 1450 75% der Bevölkerung. Die Zahl der Einwohner der deutschen Städte betrug im späten MA nur wenige tausend Personen. Dresden, Wittenberg, Würzburg hatten 2–4000 Einwohner, Mainz, Leipzig und Freiburg 4–6000, Trier, Frankfurt und Stettin 8–10 000, Augsburg, Braunschweig, Rostock, Breslau 14–18 000. Mehr als 20 000 hatten nur Straßburg, Ulm, Nürnberg, Hamburg, Lübeck, Danzig und Köln, das M. 16. Jh. mit 31 000 Einwohnern die größte deutsche Stadt war.

3. Veränderungen in der frühen Neuzeit

Seit M. 16. Jh. traten zunächst keine wesentlichen Änderungen ein. Die natürliche Vermehrung blieb gering. Die durchschnittliche Zahl der im Elternhaus lebenden Kinder war nur 1–2, doch machten die Jugendlichen in Köln M. 16. Jh. 35% und in Erfurt M. 17. Jh. 39–48% der Bevölkerung aus. Auf den Haushalt kamen fast überall 4,5 Personen. Die jährlichen Einbürgerungen gingen zurück, in Dortmund von 25 auf 20 und 10 Personen, in Lübeck von 100 M. 17. Jh. auf 88 in der 2. H. 18. Jh. Stärkeren Zuzug hatten im allgemeinen nur die Städte in Nord- und Ostdeutschland. In Berlin machten in der 1. H. 18. Jh. die B.söhne nur 22% der Neubürger aus. Die meisten Zuwanderer stammten wie zuvor aus der Umgebung der Städte, doch machte sich in manchen Orten erstmalig ein stärkerer fremdvölkischer Zuzug bemerkbar. Die Hugenotten breiteten sich über die Pfalz, den unteren Main und Hessen bis nach Magdeburg, Brandenburg und Ostpreußen aus. Auch Pfälzer und Schweizer traten größere Wanderungen an. Aus den Niederlanden flüchteten vor der spanischen Gegenreformation viele Mennoniten über die untere Elbe in das Weichsel-Nogat-Delta zwischen Danzig, Marienburg und Elbing. Sie wurden jedoch, wie die übrigen Ausländer, meistens nicht zum B.recht zugelassen. Das wirtschaftliche und künstlerische Leben wurde trotzdem durch die Fremden oft stark beeinflußt.

Nachdem die Landesfürsten in den Städten sich niedergelassen hatten und mit einem wachsenden Hofstaat und großen Garnisonen sich zu umgeben pflegten, kamen noch mehr Stadt- und Landfremde hinzu. Die französische Kolonie zählte in Berlin 1747 7000 Personen, die dortige Garnison 14 000. In Erlangen wurden 1688–98 etwa 1000 Hugenotten wohnhaft, ebenso viele waren in Magdeburg vorhanden. Zu dieser stammlichen und volklichen Überfremdung trat die bekenntnismäßige. Denn während noch im 16. und 1. H. 17. Jh. nach dem Grundsatz cuius regio, eius religio der Landesherr das Bekenntnis seiner Untertanen bestimmt hatte und Andersgläubige ausgewiesen wurden, konnte nach dem Bekenntniswechsel der Wettiner und der Hohenzollern die Niederlassung von Angehörigen anderer Bekenntnisse nicht verhindert werden. Es traten dadurch seitdem nicht unbedeutende geistige und religiöse Spannungen innerhalb der Bürgerschaft der Städte ein.

Die Fremden wirkten sich um so stärker aus, als die Wiederholung der Pestepidemien und die Wirren des 30jährigen Krieges die Zahl der Einheimischen sehr stark verminderten und durch den Zuzug eine folgenreiche Umschichtung hervorriefen. Die Einwohnerzahl ging in Osnabrück von 9500 im Jahre 1623 auf 5000 im Jahre 1648 zurück. In Brakel wurden um 1600 450 Bürger und um 1648 nur 205 Bürger gezählt. In Dortmund waren um 1618 6–7000 Einwohner vorhanden, 1650 nur 2000 und auch um 1800 erst 4000. Trotz der großen Verhafte nahm die Zahl der Einwohner, besonders in den großen Städten, erheblich zu, in Hamburg von 20 000 im Jahre 1560 auf 60 000 im Jahre 1650 und auf 125 000 im Jahre 1820. In Berlin von 10 000 im Jahre 1680 auf 72 000 im Jahre 1730 und auf 197 000 im Jahre 1816. Es waren jedoch E. 18. Jh. in Deutschland erst 60 Städte mit mehr als 10 000 Einwohnern vorhanden. Die größten Städte waren Dresden mit 53 000, Breslau mit 57 000. Königsberg mit 62 000, Hamburg mit 100 000, Berlin mit 150 000 und Wien mit 207 000 Einwohnern.

4. Künstlerische Leistungen

Die Größenordnung der Städte und ihr Wandel im Laufe der Jahrhunderte ist für die jeweilige bauliche und künstlerische Leistungsfähigkeit des Bürgertums wichtig gewesen.

Mit dem Anwachsen der Städte im 14. Jh. tritt der B. auch im künstlerischen Leben neben die bisher führenden Stände. Er ist nicht mehr nur ausführender Handwerker, sondern auch Bauherr und Auftraggeber auf allen Gebieten der Kunst. Die Pfarrkirche wird durch die Tatkraft des Bürgertums (wo nicht Bischofskirchen den Vorrang behielten) zum geistlichen und künstlerischen Mittelpunkt der Stadt, zum Sammelbecken von Stiftungen aller Art. Daneben entstehen als gemeinschaftliche Leistungen die mannigfaltigen Bürgerbauten (Sp. 178ff.). Bauhütte (RDK II 23ff.) und Zunft bestimmen weitgehend das künstlerische Schaffen. Im persönlichen Umkreis des B. gewinnt das Bürgerhaus (Sp. 180ff.) eine das Stadtbild bestimmende Bedeutung, während die Darstellung des Einzelnen im Bildnis (RDK II 656ff.), Stifterbild, Grabstein usw. sich besonders im ausgehenden 15. und im 16. Jh. gleichberechtigt neben die der anderen Stände stellt.

Zur Entstehung und Ausbreitung der bürgerlichen K. im späten MA s. Wilhelm Pinder, Die Kunst der ersten Bürgerzeit, Leipzig (19402), S. 85ff.

Die eigenständige Entwicklung bürgerlicher Kultur wird durch den Absolutismus bereits im ausgehenden 17. Jh. gestört und im 18. Jh. nahezu zum Erliegen gebracht. Immer mehr tritt der Landesherr und der Staat als Auftraggeber hervor. Nicht die B.städte, sondern die Fürstenstädte werden führend. Erst im A. 19. Jh., besonders aber im Biedermeier, blühte die bürgerliche K. wieder auf und beeinflußte ihrerseits die Hofkunst.

5. Der Umschwung seit der Mitte des 19. Jh

Mit der zunehmenden Verstädterung, der Vermehrung der Zahl der Städte, ihrer Einwohner und ihres wirtschaftlichen und politischen Einflusses, vor allem durch die damit im Zusammenhang erfolgende soziale Umschichtung im deutschen Volke, die Industrialisierung und die Veränderung der Verkehrsverhältnisse erhielten die Städte seit M. 19. Jh. ein völlig neues Gesicht. Es wurde zwar nicht mehr durch ihre „Bürger“ geprägt. Denn durch die Liberalisierung der Verwaltung und der Rechtsgestaltung war auch das B.recht aufgehoben und damit das Bürgertum als Stand beseitigt worden. Trotzdem erfolgte die bauliche Ausgestaltung der Städte fast ausschließlich durch solche Menschen, die in ihnen ansässig waren; nur ging ihre Bodenständigkeit und ihre stammesmäßige Gebundenheit stark zurück. Die Niederlegung der Wälle und Mauern, der Abbruch der meisten Tore und Türme, die Eingemeindung ländlicher Vororte geschah oft gegen den Willen der einheimischen bürgerlichen Familien. Der hergebrachte Geist des Bürgertums zog jedoch die fremden Zuwanderer zum großen Teil in seinen Bann. Die Berliner, die Kölner, die Hamburger, die Münchner stellten ausgeprägte Gruppen dar. Die Zunahme der Einwohner vieler Städte auf das 10–20fache führte außer anderen Ereignissen ein neues Zeitalter in der Bau- und Bevölkerungsgeschichte der Städte herauf. Die Bevölkerung von Chemnitz wuchs von 14 Ts. 1827 auf 68 Ts. 1871 und 350 Ts. 1939, von Düsseldorf von 31 Ts. 1835 auf 69 Ts. 1871 und 539 Ts. 1939 an. Die Zahl der Großstädte mit mehr als 100 Ts. Einwohnern nahm von 8 im Jahre 1871 auf 24 im Jahre 1890, auf 48 im Jahre 1910 und auf 62 im Jahre 1939 zu. Nicht minder bedeutsam war die fremdvölkische Unterwanderung, besonders im Ruhrgebiet, und die soziale und biologische Umschichtung. Trotz der Verarmung und Entartung weiter Kreise nahm die Zahl der Hochbegabten und Tatkräftigen in den Städten erheblich zu, so daß diese weit mehr als in den vergangenen Jahrhunderten zum ausschließlichen Träger der kulturellen Gestaltung der neuen Zeit wurden. Auch die Minderung der städtischen Bevölkerung durch die Verluste in den beiden Weltkriegen und die gleichzeitige Zerstörung großer bebauter Flächen haben die Städte ihrer Lebens- und Anziehungskraft nicht beraubt. Es bildet sich seitdem in ihnen eine neuartige Bevölkerungsgruppe mit anderer Herkunft, anderer Gliederung und anderer geistiger Haltung als früher heraus. Das Bürgertum ist trotz dieser Verwandlung noch nicht am Ende. Es ist in ein neues Zeitalter seiner Geschichte eingetreten.