Bursareliquiar
englisch: Reliquary in shape of a burse, purse-shaped reliquary; französisch: Bourse-reliquaire; italienisch: Reliquiario in forma di borsa, borsa reliquiario.
Joseph Braun S.J. († 8. 7. 1947) (1951)
RDK III, 231–235
I. Textile B.
Man hat zwei Arten von B. zu unterscheiden. Die der ersten waren wirkliche Bursen (Sp. 225ff.). In den m.a. Inventaren werden sie seit dem 12. Jh. häufig unter den Reliquienbehältern aufgeführt, zumal im 14. und 15. Jh. Genannt werden sie bursa, sacculus, Marsupium, im Deutschen sack oder budel. Stets waren sie ihrem Zweck entsprechend aus besserem Zeug, Seide, Samt, Brokat, hergestellt, oft ganz oder teilweise mit ornamentalen oder figürlichen Stickereien verziert. Ihrer Form nach stellten sie entweder einen weichen, ungesteiften Beutel oder eine durch eine Einlage versteifte Tasche dar; im ersten Fall hatten sie entweder die Form eines rechteckigen oder quadratischen, oben offenen Säckchens oder die einer aus sechs oder mehr lanzettförmigen Stücken gearbeiteten Kalotte. Mit einem Futter waren die beuteiförmigen B. nicht immer versehen, nie fehlte es jedoch bei den taschenförmigen. Geschlossen wurden die ersten durch eine Schnur, mit der man sie entweder oben unterhalb der Öffnung zusammenband oder die um den Rand herum durch den Stoff geführt war und die Öffnung zusammenzog. Den Verschluß der zweiten bildete eine an der Vorderseite überhängende Klappe.
Die Größe der beuteiförmigen B. war sehr verschieden; sie wurde durch Umfang und Zahl der in ihnen unterzubringenden Reliquien bestimmt. Neben kleinen von nur 5–8 cm Höhe gab es andere von 9–12 und 14–16 cm Höhe; darüber hinaus nur selten. Die taschenförmigen B. waren erheblich größer, haben doch einzelne eine Höhe von 30–35 cm.
Mit Stickereien waren die taschenförmigen B. stets, von den beuteiförmigen nur die größeren geschmückt. Bemerkenswert ist, daß der figürliche Schmuck oft, bei den taschenförmigen sogar meist, einen ausgesprochen weltlichen Charakter zeigte. Der Grund war der, daß manche, besonders aber die taschenförmigen B., von Haus aus ein Bestandteil der Tracht des Alltagslebens waren, Beutel oder Taschen, die für Geld oder sonstige kleinere Gegenstände am Gürtel getragen wurden (s. Almosentasche, RDK I, Sp. 393ff., und Beutel, II, Sp. 452ff.). Zum Reliquienbehälter wurden sie erst, als sie durch Schenkung oder testamentarische Bestimmung in kirchlichen Besitz gelangten.
II. Bursaartige Reliquienschreine
Die B. der zweiten Art (in den Inventaren capsa genannt) waren keine wirklichen Bursen, sondern schreinchenartige Reliquiare, die einer Tasche formal mehr oder weniger angeglichen und wie eine Umhängetasche mit einer Vorrichtung zur Aufnahme eines Tragbandes versehen waren. Beispiele haben sich aus dem 7.–12. Jh. erhalten. Das älteste ist ein bursenförmiges Reliquiar im Stift St. Maurice (Kt. Wallis; Abb. 1); das jüngste entstammt dem 13. Jh. Dann werden diese bursaartigen Reliquienbehälter durch kapselförmige verdrängt; doch erinnert noch an sie durch seine Form wie durch die an den Seiten angebrachten Ringe als Einzelerscheinung ein Reliquiar des 15. Jh. in der ehem. Slg. Rutschi in Zürich (Auktionskatal. Zürich 1931, Taf. 15).
Die bursaähnlichen Reliquiare müssen sich in merowingischer, karolingischer und ottonischer Zeit einer weiten Verbreitung erfreut haben, wie die zahlreichen Beispiele, die sich in Frankreich, Irland, Schottland, Belgien, Deutschland, Italien, dem skandinavischen Norden und der Schweiz erhalten haben, bezeugen. Ein solches Reliquiar, das bei Nimwegen gefunden wurde, und sein Gegenstück, ein aus Soissons stammendes in Beromünster (Kt. Luzern), sowie einige Beispiele keltischen Ursprunges bestehen aus Bronze, die übrigen aus einem mit Gold- oder Silberblech, vergoldetem Bronze- oder Kupferblech oder Beinplättchen bekleideten Holzkern.
Nach ihrer formalen Beschaffenheit lassen sich drei Typen unterscheiden. Die des ersten (Abb. 2) gleichen Bursen oder Taschen aus Zeug. Ihre Langseiten haben in ihrem unteren Teil die Gestalt eines Rechtecks, in ihrem oberen die eines Trapezes, neigen sich, statt senkrecht aufzusteigen, gegeneinander und treffen oben unter einem spitzen Winkel zusammen. Die Schmalseiten haben die Form eines in seinem oberen Teil nach innen geneigten dreiseitigen Zwickels. Ein Decke] fehlt; im Querschnitt sind die Reliquiare dieses Typus keilförmig. – Die Reliquiare des zweiten Typus (Abb. 3) zeigen die Form eines mit dachartigem Deckel versehenen, meist abgewalmten Schreinchens. Wo der Walm fehlt, steigen die Schmalseiten von unten bis zur Spitze senkrecht auf. Der Walm ist eine Angleichung an die Bildung des oberen Teiles der Schmalseiten. Eine andere Annäherung geschieht bei einigen Beispielen dieses Typus durch das Ornament der Langseiten, das am Deckel seine Fortsetzung findet, wodurch beide wenigstens ornamental zu einer Einheit zusammengefaßt erscheinen (Abb. 2). – Die Reliquiare des dritten Typus (Abb. 4) nehmen eine Zwitterstellung zwischen den beiden anderen ein. Mit dem zweiten haben sie die Teilung in Behälter und abgewalmten Deckel gemein. Sie unterscheiden sich von ihnen jedoch und nähern sich dem ersten dadurch, daß die Seiten nicht senkrecht zum Boden stehen, sondern nach innen geneigt sind und infolgedessen nicht Rechteck-, sondern Trapezform haben.
Gemeinsam ist allen drei Typen die Rechteckform des Bodens, der keinen Vorsprung hat, der Mangel an Füßchen sowie die an den Schmalseiten angebrachte Vorrichtung zur Aufnahme eines Tragriemens, der allerdings heute bei einigen abhanden gekommen, bei den meisten aber noch ganz oder in Resten vorhanden ist. Oben schloß man die bursaartigen Reliquiare gern mit einem Wulst oder einer flachen Leiste als Bekrönung ab. Kleine Löwen bekrönen die Reliquiare aus Enger, ehem. Schloßmus. Berlin (Abb. 5 und RDK I, Sp. 382, Abb. 4) und im Dom zu Monza, eine männliche Halbfigur zwischen zwei von ihr abgewendeten Löwen – eine Darstellung, die man sinnlos als eine Variante des Danielmotivs gedeutet hat – ein zu Ennabeuren in Württemberg gefundenes Beispiel (Abb. 6). Bei einigen der Reliquiare ist im Boden ein Schubdeckel oder ein aufklappbarer Deckel angebracht. Gewöhnlich aber waren die Reliquien im Behälter unzugänglich.
Die Breite der bursaartigen Reliquiare schwankt durchwegs zwischen 13 und 18 cm, die Tiefe zwischen 4 und 6, die Höhe zwischen 13 und 20 cm. Andere Maßverhältnisse zeigen nur wenige der noch vorhandenen Beispiele. Am kleinsten ist ein Reliquiar in der Stiftskirche zu Tongern, das nur 4 cm breit, 2,25 cm tief und 7 cm hoch ist. – Als Schmuck weisen noch vorhandene merowingische oder frühkarolingische Beispiele Zelleneinlage auf, wie die Reliquiare zu St. Maurice im Wallis (Abb. 1), in Utrecht und Beromünster und das aus Enger (RDK I 382 Abb. 4), Steine oder Filigran die Reliquiare in Conques, im Kaiserschatz zu Wien (Abb. 2) und im Dom zu Monza. Gewöhnlich bestand die Ausstattung der bursaartigen Reliquiare in ornamentaler oder figürlicher Treibarbeit.
Zu den Abbildungen
1. St. Maurice (Kt. Wallis). B. mit Zellenverglasung, Steinen, Perlen und einer antiken Kamee, 7. Jh. Phot. Verf.
2. Wien, Schatzkammer des ehem. Kaiserhauses. Schrein des hl. Stephan, Vorderseite mit Steinen in Goldfassung, 9. Jh. Phot. Österr. Lichtbildstelle, Wien.
3. Muotathal (Kt. Schwyz), Pfarrkirche. B. mit Treibreliefs. 9. Jh. Phot. Verf.
4. Sitten (Kt. Wallis), Kathedrale. B. mit getriebenen Heiligenfiguren, Stiftung des Bischofs Altheus (799). Phot. Verf.
5. Ehemals Berlin. Schloßmuseum. B. aus Enger i. Westf., 8. Jh. Christus zw. Engeln, Maria zw. Petrus u. Paulus. Phot. Mus.
6. Ennabeuren O.A. Münsingen, Württ., Pfarrkirche. B. aus einem Altargrab, 8./9. Jh. Phot. Karl Gröber, München.
Literatur
Braun, Reliquiare, S. 198ff., 505ff. – 2. Jul. Baum, Das Warnebertusreliquiar in Beromünster, Zs. f. schweiz. Archäol. u. Kg. 8, 1946, S. 203ff. – 3. Jak. Eschweiler, Ein spätromanisches Tragreliquiar im Schatz des Konstanzer Münsters (um 1260). Bodenseebuch 33, 1947, 28ff.
Verweise
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