Butzenscheibe
englisch: Bottle-glass, bull's eye; französisch: Cive, carreau en cul de bouteille, vitre en cul de bouteille; italienisch: Vetro circolare (a cul di bottiglia) per finestra.
Heinz Merten (1952)
RDK III, 292–298
Butzenscheibe (Nabelscheibe, Ochsenauge, Mondscheibe) nennt man eine runde Glasscheibe mit einer einseitigen Erhöhung in der Mitte, dem Butzen oder Nabel, die zur Verglasung von Fensteröffnungen verwendet wurde.
I. Herstellung
Mit der Glasmacherpfeife wird zunächst eine Kugel geblasen, dann mit etwas heißem flüssigem Glas an der der Pfeife gegenüberliegenden Seite ein Hefteisen angeschmolzen und hierauf die Pfeife abgesprengt. Nun wird die am Hefteisen befestigte Kugel im Ofen wieder erwärmt und die durch das Absprengen der Pfeife entstandene Öffnung mit einem heißen Auftreibeeisen zur sog. Krone ausgeweitet. Diese nun erzeugte offene Schale wird erneut stark erhitzt und, nachdem sie ofenweich geworden, durch rasches gleichmäßiges Drehen über dem Bein oder über einer Unterlage zu einer flachen Scheibe ausgeschleudert. Zum Schlusse wird der Rand zu einem schmalen Wulst mit einer Zange umgebogen und die B. vom Hefteisen abgesprengt [9 Abb. 21]. Dieser durch das Drehen rundt und circhelrecht [1] gewordenen Form der B. verdanken auch die viereckigen Fenstergläser die Bezeichnung „Scheibe“. Alle frühen, zur Verglasung verwendeten B. sind dünnwandig, ihre Sprengnarben niedrig. Die Größe wechselte; bis zum 17. Jh. waren vorwiegend B. von 10–12 cm Dm., später, vor allem im 19. Jh., solche von 5–15 cm gebräuchlich. B. größeren Ausmaßes – es kommen Größen bis zu 1 m Dm. vor – nannte man Mondscheiben. Diese wurden nicht zur Verglasung im ganzen verwendet, sondern man zerteilte sie, nachdem sie erkaltet waren, in drei Teile: ein kreisförmiges Mittelstück mit dem Butzen in der Mitte und zwei halbkreisförmige, halbmondartige Stücke, die der ganzen Scheibe den Namen gaben (Abb. 1). Diese beiden Teile lieferten infolge ihrer reineren und glänzenderen Oberfläche ein bedeutend hochwertigeres Flachglas als das mit dem Streckverfahren hergestellte Walzenglas. Die Mittelstücke mit der Ansatznarbe des Hefteisens, die B., werden zunächst wohl als Abfall weggeworfen worden sein, bis später irgend jemand auf den Gedanken kam, diese selbst zur Verglasung zu verwenden. Die B. wurden aus Waldglas (gelblich bis grünlich), seltener aus entseiftem Glas (rein weiß) hergestellt. Farbige B. fertigte man erst im 19. Jh. z. B. in der Spessarter Glashütte Einsiedel [8] an. Gemusterte und gewellte, d. h. in Form gepreßte B. kommen sehr selten vor. Aus der St. Severikirche in Erfurt gelangten zwei, wohl aus dem 16. Jh. stammende B. in das Schnütgenmuseum nach Köln [4], eine aus St. Pantaleon, Köln, in das Hess. Landesmus. Darmstadt (Abb. 2). Mit Schwarzlot und Silbergelb bemalte B. sind seit dem 15. Jh. bekannt: zwei 1440 datierte B. aus rein weißem Glas, aus dem Maßwerk der Gottesleichnams-Kapelle der Burg in Wiener-Neustadt, besitzt das Hess. Landesmus. Darmstadt (Abb. 3 und 4). Mit Schmelzfarben bemalte B. gibt es seit 2. H. 16. Jh.
II. Verbleiung
Die früheste Form der Verbleiung von B. scheint das Aneinandersetzen in gleichlaufenden Reihen gewesen zu sein, wodurch zwischen den einzelnen B. vierspitzige Räume, Zwickel, entstanden. Diese Art ist vor allem in der 1. H. 15. Jh. in den südlichen Niederlanden und den rheinischen Gebieten nachweisbar. Wir finden sie besonders deutlich wiedergegeben auf der „Verkündigung“ des Jan van Eyck (um 1436/7), früher in St. Petersburg, jetzt Washington (Abb. 5), und auf dem Katharinenflügel des Giustiniani-Altares von Jan van Eyck (1437) in Dresden (Abb. 6). In beiden Fällen sind die B. mit Randstreifen verbleit; von der 2. H. 15. Jh. ab werden diese seltener und fallen später weg. Im allgemeinen sind die Zwickel, wie die B. selbst, aus Waldglas; farbige dagegen, wie sie z. B. auf der „Verkündigung“ des Jan van Eyck wiedergegeben sind, sind äußerst selten. – Verschob man nun die B.-Reihen gegeneinander um einen halben Durchmesser senkrecht nach oben oder waagerecht zur Seite, so erhielt man dreispitzige Zwickel. Diese Art der Verbleiung mit senkrecht versetzten Reihen ist dargestellt auf einem Glasgemälde der St. Leonhardskirche bei Tamsweg (Salzburg) von 1430. – Die gebräuchlichere Art, die waagerechten Reihen zu versetzen, sehen wir z. B. auf dem Holzschnitt „Der junge Weißkunig beim Maler“ aus dem „Weißkunig“ von Hans Burgkmair (Abb. 7) (um 1515), aber auch bei B. Zeitblom (St. Valentin verweigert den Götzendienst, Augsburg) und Hans v. Kulmbach (Predigt des Hl. Petrus, Florenz; beides b. Heidrich, Altdeutsche Malerei Abb. 56 u. 114). Eine weitere, im 15. u. 16. Jh. beliebte Verbleiungsmöglichkeit zeigt der Holzschnitt „Schachspiel“ aus dem „Goldenen Spiel“, gedruckt 1472 zu Augsburg bei Günter Zainer: eine einzelne B. wird zwischen Rechteckscheiben gesetzt. Auch Jost Amman hat mehrfach derartige Verglasungen in seinen Holzschnittwerken abgebildet, z. B. auf dem Holzschnitt „Der Plattner“ aus der Folge „Stände und Handwerker“, gedruckt 1568 bei S. Feyerabend in Frankfurt a. M. (Abb. 8). – Eine seltene Abart ist auf der Tafel des Petrus Christus: Madonna mit dem Kartäuser, Berlin, K.F.M. Nr. 523 B, zu sehen (Abb. 9). Hier sind Randstreifen aus B. um eine Rautenverglasung gebleit.
III. Geschichte der B.
Wer der Erfinder der B. ist, und wann und wo sie entstand, ist unbekannt. Der Verfasser der „Diversarum artium schedula“ (11. Jh.) kennt und schildert ihre Herstellung nicht. Dagegen sollen in Fenstern der St. Albanikirche zu Odense (Dänemark) Gläser aus dem 11. Jh. vorhanden sein, die ringförmige Unebenheiten zeigen und nach dem Mondglasverfahren hergestellt sein sollen [6]. Auch in der ersten urkundlichen Erwähnung, einem Privilegium Philipps VI. von Frankreich in der Bibl. Nat. in Paris, ist von der Mondscheibe (verre à boudine) die Rede. Darin wird einem Philippe de Cacqueray, Sieur de Saint Immes, als dem „Erfinder“, im Jahre 1330 die Erlaubnis zur Errichtung einer „Verrerie grosse“, einer Mondglashütte, erteilt [3]. Ob er das Mondglasverfahren von irgendwoher vielleicht eingeführt hat, oder ob er nur ein rationelleres Herstellungsverfahren erfunden hat, ist nicht erwiesen. Zur Verglasung von Fensteröffnungen ist jedenfalls das Mittelstück der Mondscheibe, die B., nicht vor E. 14. Jh. verwendet worden. Gesichert nachweisbar ist dies erst durch die bildlichen Darstellungen vom A. 15. Jh. ab. In seiner „Predigt vom Glasmachen“ schildert uns 1562 Johannes Mathesius genau die Herstellungsmethode, die bis heute die gleiche geblieben ist [1]. Das 17. Jh., das höhere Anforderungen an die Fensterverglasung stellte, und nicht zuletzt das zunehmende Lichtbedürfnis im 18. Jh. verbannte die B. und gab der nach neuen Verfahren hergestellten Spiegelglasscheibe den Vorzug. – Mit dem zunehmenden Interesse für die deutsche Kunst des MA zu Beginn des 19. Jh. kam auch die B. wieder zu Ehren. Neue Hütten entstanden, z. B. die Glashütte Einsiedel im Spessart [8], die zeitweilig fast nur B. erzeugten. Man brauchte sie, um den mit m.a. Hausrat angefüllten Räumen die nötige „altdeutsche Stimmung“ zu geben. Leider kam dadurch die B. in Verruf, und man spricht in der 2. H. 19. Jh. in verächtlichem Sinn von „Butzenscheibenromantik“ und „Butzenscheibendichtung“.
Zu den Abbildungen
1. Entstehung der Butzenscheibe aus der Mondglasscheibe. Modell im Deutschen Museum, München. Phot. Dt. Mus. München.
2. Darmstadt, Hess. Landesmus., gewellte B. aus St. Pantaleon, Köln. Durchm. 10 cm. 15. Jh. Phot. Verf.
3. und 4. Darmstadt, Hess. Landesmus., zwei B. aus rein weißem Glas, in Schwarzlot bemalt mit der Jahreszahl 1440 und der Devise Kaiser Friedrichs III. A.E.I.O.U. (Austria erit in orbe ultima). Aus der Gottesleichnams-Kapelle der Burg in Wiener Neustadt. Durchm. 12 cm. Phot. Verf.
5. Jan van Eyck, Verkündigung, um 1436/7, Ausschnitt. Früher St. Petersburg, Eremitage, jetzt Washington, Mellon Gallery. B. in gleichlaufenden Reihen, mit farbigen Zwickeln und weißen Randstreifen. Phot. Mus.
6. Jan van Eyck, Hl. Katharina, Flügel des Giustiniani-Altars, 1437, Ausschnitt. Dresden, Gem.Gal. Nr. 799. B. in gleichlaufenden Reihen aneinandergesetzt, mit Randstreifen verbleit. Phot. Staatl. Gal. Dresden.
7. Hans Burgkmair, Holzschnitt aus dem Weiskunig, „Der junge Weiskunig beim Maler“, um 1515, Ausschnitt. B.-Verglasung mit waagrecht um einen halben Durchmesser versetzten B.
8. Jost Amman, Holzschnitt aus dem Ständebuch, „Der Blatner“, Frankfurt bei S. Feyerabend 1568. Einzelne B. zwischen Rechteckscheiben verbleit.
9. Petrus Christus, Madonna mit dem Kartäuser (Exeter-Madonna), um 1444. Berlin, K.F.M. 523 B. Ausschnitt. B. als Randstreifen verbleit. Phot. Staatl. Mus. Berlin.
Literatur
1. Johannes Mathesius, Predigt vom Glasmachen, in Sarepta oder Bergpostille, Nürnberg 1562. – 2. H. E. Benrath, Die Glasfabrikation, Braunschweig 1875. – 3. Edouard Garnier, Histoire de la verrerie et de l’émaillerie, Tours 1886. – 4. Heinrich Oidtmann, Die rheinische Glasmalerei vom 12. bis zum 16. Jh., I, Düsseldorf 1912. – 5. F. M. Feldhaus, Die Technik der Vorzeit, der geschichtlichen Zeit und der Naturvölker, Berlin 1914. – 6. Hans Schulz, Geschichte der Glaserzeugung, Leipzig 1928.– 7. L. Springer, Lehrbuch der Glastechnik, Dresden 1935. – 8. Oskar Bauer, Gläser der Spessarter Glashütte Einsiedel, Glastechn. Ber. 15, Frankfurt a. M. 1937. – 9. Otto Voelckers, Glas und Fenster, Berlin 1939.
Empfohlene Zitierweise: Merten, Heinz , Butzenscheibe, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. III (1952), Sp. 292–298; in: RDK Labor, URL: <https://www.rdklabor.de/w/?oldid=89311> [09.10.2024]
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