Erfahrung

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englisch: Experience; französisch: Expérience; italienisch: Esperienza.


Justus Müller-Hofstede (1965)

RDK V, 1229–1235


RDK V, 1231, Abb. 1. Nancy, um 1500.
RDK V, 1233, Abb. 2. Marten de Vos, 1594, Antwerpen.
RDK V, 1233, Abb. 3. Chr. Sambach (Entw.) und Jos. Stöber (Ausf.), 1801.

Der Begriff E. (experientia) ist der antiken wie auch der ma. Literatur geläufig, doch erst seit dem späteren MA – literarisch wie bildlich – als Personifikation vorgestellt worden. Bis dahin verstand man unter E. zumeist ganz bestimmte E. in einzelnen Belangen der Wissenschaften und des Handwerks (z. B.: E. in der Kriegskunst) und faßte den Begriff nicht in seiner heutigen verallgemeinernden Bedeutung (etwa „Erfahrenheit“) auf. Daher ist auch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß Darstellungen der E. als Personifikation solche von Exempeln vorausgingen.

Bildteppiche des 15. Jahrhunderts enthielten Bilder der „Dame Expérience“, die unter Assistenz der Ärzte Galen und Averroes über „Banquet“ und „Souper“ zu Gericht sitzt und diese zum Tod durch den Strang bzw. zur Verbannung verurteilt, weil sie „Bonne-Compagnie“, „Je-Bois-à-Vous“ und „Passe-Temps“ nebst ihren Gefolgen zu üppigem Mahl geladen, dann aber Gebresten – u. a. „Fièvre“, „Apoplexie“, „Colique“ – auf die Gäste gehetzt hatten. Von solchen, die Verderblichkeit der Gula schildernden Bildteppichen ist erstmals um 1440 die Rede („Déclaration de trois pièces de tapisseries“ für Philipp den Guten; Kopie: Paris, B.N., ms. fr. 1193). Solcher Beschreibung entsprechende Bildteppiche sind erst aus der Zeit um 1500 erhalten (Abb. 1; ein weiteres Beispiel befindet sich in spanischem Priv.bes. [Slg. Duque Fernan-Nuñez in Madrid]: Pierre Marot, La „Condamnation de Banquet“. La moralité et les tapisseries, Mém. de la Soc. nat. des Antiquaires de France 83, 1954, 295–311). Einen literarischen Niederschlag fanden Darstellungen dieser Art in einer „moralité“ von Nicolas de la Chesnaye, die 1507 in Paris gedruckt wurde (Georges Doutrepont, ,La Condamnation de Banquet’ de Nic. de la Chesnaye, Mém. de l’Acad. roy. de Belgique, Classe des Lettres 28, 3, 1931, 3ff.).

Zu Beginn der Neuzeit erlangte der Begriff E. größeres Gewicht. Erasmus von Rotterdam räumte in seinen „Adagia“ (zuerst Paris 1500) der E. einen eigenen Abschnitt ein („Adagiorum Epitome“, Amsterdam 1663, S. 191– 94; [1]); Dürer ließ auf seinem Holzschnitt des „Triumphwagen Maximilians“ die beiden Pferde an der Spitze des Gespannes von E. und „Sollertia“ leiten, damit die Rosseführerinnen „großmütigkeit“ und „keckheyt“ „den wagen nit verfüren“ (Hans Tietze u. Erika Tietze-Conrat, Krit. Verz. der Werke Albr. Dürers Bd. 2, Basel u. Lpz. 1938, Abb. 181f.; [1]). Achille Bocchi führte die E. unter dem Bild des Odysseus, des von Merkur und Minerva beratenen „vir experiens“, vor und beschloß die Bilderklärung mit einem „experientia maior arte“ (Symbolicarum Quaestionum ... libri V“, Bologna 1555, S. 273ff., Emblem Nr. 127; [1]). Im Jahre 1579 waren E.-Personifikationen noch selten: Philipp Galle bemerkt im Vorwort zu seiner in diesem Jahr in Antwerpen erschienenen „Prosopographia“, er habe in seinem Werk Bekanntes wie die freien Künste, Haupttugenden und -Laster übergangen, werde aber dem Leser „Patientiae, Poenitentiae, Experientiae ... imagines“ vorstellen.

Die E.-Personifikationen der Neuzeit sind keinen festen Typen verpflichtet. Die nahezu einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen besteht in der Charakterisierung durch solche Attribute, die der E. Fähigkeit zur Prüfung (experimentum) der Dinge zum Ausdruck bringt. Am häufigsten dient der Prüfstock als E.-Attribut, sonst der Prüfstein und die Brille; doch war es jederzeit möglich, durch andere Attribute dem übergeordneten Bildzusammenhang, in den die E. eingefügt ist, Rechnung zu tragen. Allerdings wählte man auch dann, wenn die E. – wegen ihrer Befähigung zu sorgfältig-abwägender Prüfung – in die Reihe von Tugenden gerückt wurde, die E.-Attribute aus dem Vorrat technisch-praktischer Geräte aus (Senkblei, Winkelmaß usw.).

Die Darstellungen der E. aus dem Zeitraum zwischen 1570 und 1800 sind selten, zumal in der deutschen Kunst.

Phil. Galle (a.a.O. Taf. 12, Abb. 43) stellte die E. als ältere, bekleidete Frau vor, die Prüfstock und Senkblei hält. An seine Bildkonzeption schloß sich Renold Elstrack an (Titelkupfer zu W. Ralegh, Hist. of the World, London 1614; [1]), desgleichen früher schon M. de Vos, dessen Entwurf für die Dekoration zum Einzug von Erzhzg. Ernst von Österreich in Antwerpen, 1594, die E. jedoch als junge Frau zeigt (Abb. 2; Antoinette Doutrepont, Bull. de l’Inst. Hist. belge de Rome 19, 1937, 125ff.).

Ein Emblem in Mich. Maiers „Atalanta fugiens“ (Oppenheim 1618, S. 177; [1]) bringt zum Ausdruck, daß E., „Ratio“ und „Lectio“ das unerläßliche Rüstzeug für einen Alchimisten darstellen. Er ließ die E. als einen alten Mann abbilden, der hinter der „Natur“ herschreitet und durch Prüfstock, Lampe und Brille als einer, der über jene drei Voraussetzungen verfügt, gekennzeichnet ist. Die Brille befähigt ihn, auch das Entfernte und Unscheinbare scharf wahrzunehmen (so die Erklärung des Attributs bei Maier).

Die Kodifizierung der Personifikationen um die Wende zum 17. Jh. brachte keinen Anstoß, die E. häufiger wiederzugeben. In den älteren Ausgaben der „Iconologia“ des Ces. Ripa ist die E. nicht berücksichtigt. Erst die Pariser Ausgabe von 1643 und die 1645 in Venedig erschienene erwähnen die E. als ältere Frau in goldenem Gewand: das Alter ist Voraussetzung für mögliche E., und die Farbe des Kleides soll anzeigen, daß unter allen Wissenschaften (scienze) die E. die wertvollste sei. Attribute der E. sind ihr ‚Zepter’, ein Prüfstab mit dem Schriftband „Rerum Magistra“, sowie eine Tafel mit geometrischen Zeichen und ein Gefäß mit Feuerbrand, also Prüfmittel. In den deutschen Übersetzungen der „Iconologia“ ist der Begriff E. meist wieder übergangen; eine Ausnahme macht die „Viel nutzende und erfindungen reichende Sinnbild-Kunst“, die Chr. Weigel in Nürnberg verlegte (o. J., S. 17, Kupfertaf. 9; [1]). Die Beischrift „Rerum Magistra“ weist die nach Chr. Sambach von Jos. Stöber gestochene E.-Darstellung der Wiener „Iconologie“ von 1801 (Abb. 3; [1]) als Echo der Ripaschen Konzeption aus; im übrigen rückt dieses Beispiel jedoch von deren Bildtypus ab und zeigt eine Frau in einer Alchimistenküche mit der Prüfung von Gold beschäftigt.

Als Vertreterin der „Practica“ ist die E. (mit „Finitio“ und „Restauratio“) auf dem Titelblatt der deutschen Scamozzi-Ausgabe „Grund-Regeln der Baw-Kunst“ usw., Nürnberg 1678, der „Theorica“ (mit „Praecognitio“ und „Aedificatio“) gegenübergestellt ([1]; so schon das Titelkupfer zum zweiten Teil von V. Scamozzi, L’idea della architettura universale, Venedig 1615, ed. princ.; [1]; vgl. G.K. Lukomski, I maestri della architettura classica da Vitruvio allo Scamozzi, Mailand 1933, S. 313; s. *Theorie und Praxis). Auf die Bedeutung der E. für die Heilkunde weist die E.-Personifikation auf dem Titelkupfer zu Hadrian à Mynsicht, Thesaurus et armamentarium medico-chymicum, Lübeck 1662, hin [1]: ein Buch und ein Erdglobus sind die Attribute der E. Ebenfalls im Gefolge der Medizin erscheint die E. auf dem Titelkupfer zu Herman Boerhave, Vort bondige Spreuken, Amsterdam 1741 ([1]; J. Schonten, De slangestaf van Asklepios, symbol der geneeskunde, Amsterdam-Meppel o. J., S. 129 Abb. 32). Die Konfrontation von Theorie und Praxis bildet den thematischen Rahmen für die E.-Darstellung der Wiener Hofbibliothek; in dem um 1730 entworfenen Programm für deren Deckenmalerei (Wien, Österr. Nat. Bibl., cod. 7853) ist für die Apotheose des Kaisers u.a. ein Tugendenpaar vorgesehen („Wissenschafts-Tugenten“), das die „Klugheit zu regiren“ und die „Erfahrniß Kriege zu führen“ vorstellen soll; die E. in der Kriegskunst besitzt einen entblößten Degen und den „Ariadnischen Faden-Knöll“ als Attribute und huldigt mit „freudigen Gebährden“ dem Herrscher (Gert Adriani, Die Klosterbibliotheken des Spätbarock in Österreich und Süddeutschland, Graz, Lpz. u. Wien 1935, S. 74).

Von den Repräsentanten der E., die Jos. Lange in seinen „Florilegii magni seu Polyantheae ... libri XXIII“ (Leiden 1648, Sp. 1046; [1]) aufzählt, ist keiner in nennenswertem Umfang in die bildende Kunst eingegangen.

Zu den Abbildungen

1. Nancy, Mus. Historique Lorrain, Bildteppich aus einer Folge mit Darstellungen der „Condamnation de Banquet“. Größe unbekannt. Tournai, um 1500. Fot. Mus.

2. Marten de Vos, „Experientia“. Lavierte Federzchg., 32,6 × 14,5 cm. Antwerpen, Stedelijk Prentenkabinet Inv.Nr. A. VIII. 2 (Kat. A. J. J. Delen 1938, Bd. 1, S. 23 Nr. 34). 1594. Fot. A.C.L. 79981.

3. Chr. Sambach (Entw.) und Jos. Stöber (Ausf.), Personifikation der E. Kupferstich, 6,5 × 5,0 cm. Ill. zu o. N., Iconologie oder Ideen aus dem Gebiete der Leidenschaften und Allegorien usw., Wien 1801, Nr. 157. Fot. Walter Glock, Mchn.

Literatur

1. Hinweise von Karl-August Wirth, Mchn.