Adlerpult

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englisch: Lectern with eagle-shaped rest; französisch: Lutrin (en forme d'aigle); italienisch: Leggio ad aquila.


Heinrich G. Lempertz (1933)

RDK I, 187–195


RDK I, 187, Abb. 1. S. Giulio, um 1100.
RDK I, 189, Abb. 2. Villard de Honnecourt, 1. H. 13. Jh.
RDK I, 189, Abb. 3. Villard de Honnecourt, 1. H. 13. Jh.
RDK I, 191, Abb. 4. Dortmund, 15. Jh.
RDK I, 191, Abb. 5. Düsseldorf, M. 15. Jh.
RDK I, 191, Abb. 6. Herrieden, 15. Jh.
RDK I, 193, Abb. 7. Köln, St. Johann Baptist, 18. Jh
RDK I, 193, Abb. 8. Köln, St. Johann Baptist, 18. Jh

Adlerpult (lat. aquila, pulpitum, lectorium; franz. aigle, lutrinaigle), liturg. Lesepult in Gestalt eines Adlers zum Verlesen von Epistel und Evangelium. Inmitten des Chors stehende A. dienen auch zum Auflegen von Antiphonaren u. ä. Büchern. – Über die symbolische Bedeutung des Adlers vgl. Adler; hier wird man an das Symbol des Evangelisten Johannes zu denken haben (Sauer, Symbolik, S. 130 Anm. 4; S. 180), zumal gelegentlich die 3 übrigen Evangelisten dargestellt sind (Abb. 3); vgl. auch die Predella des Breisacher Hochaltars, wo allein der Evangelist Johannes das Buch auf den Rücken seines Symbols, des Adlers, legt.

Ursprünglich vielleicht nur in Verbindung mit Ambo, Lettner, Kanzel, Chorschranke vorkommend und in diesem Fall meist ohne besonderen Sockel auf einer Brüstung aufgestellt oder an ihrer Front angebracht (I), wird das A. schon früh verselbständigt und mit besonderem Sockel verschen (II). In dieser Gestalt, die man als A. im speziellen Sinn bezeichnet, ist es besonders im 14. und 15. Jh. in den Niederlanden und ihren Nachbargebieten verbreitet und meist aus Gelbguß hergestellt. Noch heute wird das A. im kathol. Gottesdienst verwendet, und zwar sowohl in leicht transportabler wie in schwerer, an den Platz gebundener Ausführung. Das gelegentlich paarweise Vorkommen des A. findet seine Erklärung darin, daß Epistel und Evangelium an verschiedenen Plätzen und infolgedessen auf 2 getrennten A. verlesen zu werden pflegen.

I. A. ohne eigenen Sockel haben sich in großer Zahl an romanischen und gotischen Kanzeln und Lettnern in Italien erhalten (vgl. Venturi, Storia dell’arte italiana, Bd. III, u. Abb. 1). Zumeist bestehen sie wie die Kanzeln und Lettner, an deren Brüstungen sie angebracht sind, aus Stein. Aber auch Bronze-A. kommen vor (Mailand, San Ambrogio, Venturi, a. a. O., S. 201 u. 203). Daß auch der Norden schon früh A. aus Metall kannte, beweist ein Bericht über die Tätigkeit des Abtes Folcuin v. Lobbes (Hennegau). Folcuin errichtete um 970 auf dem Lettner seiner Klosterkirche: fusilem ... aquilam optime deauratam, quae interdum alas stringebat, interdum alis expansis (extensis) capacem evangeliorum codici locum pandebat, colloque, quasi pro libitu, artificiose ad audiendum retorto, et iterum reducto, immissis prunis fragrantiam superimpositi thuris emittebat (Annales Ord. S. Benedicti ed. Mabillon, Bd. III, Paris 1706, p.609, und mit geringen Abweichungen M. G. H. SS. IV, S. 70). – Derartige kunstvolle Mechanismen waren dem Mittelalter keineswegs fremd (vgl. Automat). Überdies kennen wir eine Zeichnung des Villard de Honnecourt (1. H. 13. Jh., Abb. 2), die ein A. mit beweglichem Kopf darstellt und die Beischrift trägt: Par chu fait om dorner (tourner) la teste de l’aquile vers le diachene, kant list l’avengile. Doch ist kein Beispiel eines beweglichen A. auf uns gekommen.

Die in Deutschland erhaltenen Ambo- und Lettner-A.sind fast ausnahmslos aus Bronze bzw. Gelbguß. (Ein schmiedeeisernes A. – Höhe 75 cm – wohl flandrischer Herkunft im Folkwang-Mus. Essen.) Sie gehören zumeist dem Zeitalter der Gotik, insbesondere dem 14. und 15. Jh. an, kommen aber auch in nachmittelalterlicher Zeit gelegentlich noch vor (Metz, Kath., 1724 von Nik. Beaufort in Luxemburg). Der vollrund gebildete Adler trägt das Buch auf den ausgebreiteten Flügeln oder auf einer auf diesen angebrachten Platte; er steht auf einer Kugel, Platte, einem Baumstamm oder auch auf einem Drachen. Beispiele in Halberstadt (Dom, Inv. Prov. Sachsen 23, S. 275), Soest (St. Patroclus, Inv. Westfalen 16, Taf. 61), Hildesheim (Dom, Inv. Prov. Hannover 2, 4, S. 77), Köln (St. Severin, Inv. Rheinprov. 7, 2, S. 305). Keins dieser A. ist in situ erhalten; möglicherweise stammt das eine oder andere der genannten Stücke ursprünglich von einem freistehenden Pult, dessen Sockel verlorengegangen ist. – In St. Johann-Bapt. zu Köln sind an der Chorwand links und rechts vom Hochaltar 2 Buchadler des 18. Jh. auf drehbaren schmiedeeisernen Wandarmen angebracht (Abb. 8).

Von Ambo und Lettner wird das A. an die im ausgehenden Mittelalter aufkommende Predigtkanzel übernommen. Es kommt namentlich in der Barockzeit in der kath. wie in der protest. Kirche immer wieder vor, wenn auch die Zahl der erhaltenen Beispiele verhältnismäßig klein ist. In dieser Verbindung teilt das A. in der Regel das Material der Kanzel (Stein oder Holz).

II. Wann das A. verselbständigt, mit eigenem Sockel verschen und unabhängig von Lettner und Ambo aufgestellt wurde, ist ungewiß. Möglicherweise existiert sogar das freistehende A. schon vor den ältesten bekannten Brüstungsadlern. In St. Hilaire zu Poitiers soll es [1, S. 306] ein A. des 7. Jh. gegeben haben, dessen Fuß mit den Evangelisten u. a. Figuren geschmückt war. Wenn Abt Suger von St. Denis im Liber de rebus in administratione sua gestis (Schlosser, Quellenbuch, S. 280) berichtet: Aquilani vero in medio chori dedeauratam ... reaurari fecimus, so kann es sich doch wohl nur um ein freistehendes Pult handeln, das nach dem Zustand der Vergoldung schon ein beträchtliches Alter gehabt haben mag. Daß zum mindesten in der 1. H. 13. Jh. das A. in der später so häufig vorkommenden freistehenden Form bekannt war, beweist wieder eine Zeichnung des Villard de Honnecourt (Abb. 3). Die eigentliche Blütezeit des freistehenden A. beginnt aber mit dem 14. Jh., um im 15. ihren Höhepunkt zu erreichen. Bevorzugtes Material ist der Gelbguß, Hauptverbreitungs- und zumeist wohl auch Entstehungsgebiet die Niederlande und die angrenzenden deutschen und französischen Gebiete. Aber auch in allen übrigen Ländern kommt das A. vor. Neben Gelbguß wird Stein (in Italien besonders Marmor) und Holz verwendet. – 1372 entstand bei Johann Joses in Dinant das A. in Tongern bei Lüttich; 1383 schuf in Tournai Guillaume Lefèbre das A. für St. Nicolas in Tournai; 1450 wurde ebendort das A. für St. Martin in Hal (Belgien) gegossen. Der Schaft hat meist die Form einer Säule – oft mit Schaftringen –, eines Pfeilers oder eines architektonischen Gehäuses (Tabernakel); häufig ist er mit Ziermotiven geschmückt, die dem Formapparat der gotischen Architektur (Fialen, Maßwerk, Wimperge, Strebepfeiler und -bogen) entnommen sind. Auch Figuren, Tiergestalten (Drachen usw.) sowie Kerzenhalter wurden gelegentlich angebracht. Den Fuß bildet eine runde oder eckige, meist profilierte Platte, die auf 3 oder mehr Füßen steht. Letztere haben vorzugsweise die Form ruhender Löwen, doch kommen auch sitzende Löwen, Kugeln u. a. Formen vor.

Die auf deutschem Boden erhaltenen freistehenden A. sind, soweit sie aus Gelbguß bestehen, z.T. niederländischer Import, z. T. auch in Deutschland entstanden. Aus der Zeit um 1400 stammen das Aachener (Inv. Rheinprov. 10, 1, S. 141) und das Erkelenzer A. (ebd. 8, 2, S. 47 u. Taf. IV), beide mit reichem architektonischen Postament, das letztere auch mit Figuren. Wahrscheinlich sind beide niederländischen Ursprungs. 1449 soll das A. der Altenberger Zisterzienserkirche, jetzt in St. Maximilian in Düsseldorf, entstanden sein (Abb. 5). Ein A. in St. Rainoldi in Dortmund (Inv. Westfalen 2, Taf. 10) hat Säulenschaft mit Ringen und gotischem Strebesystem und reich gegliederten runden Fuß auf 4 sitzenden Löwen. In der Marienkirche der gleichen Stadt steht der Adler auf einem 8kantigen Steinpostament (Abb. 4); das A. in Marienfeld (Inv. Westfalen, Kr. Warendorf, S. 148) hat einen leuchterartigen Sockel auf 3 Löwen. Weitere Beispiele bei Otte I, S. 302, und in der angeführten Literatur; ein A. aus Venlo im Deutschen Mus., Berlin, ein besonders schönes Exemplar im Berner Münster. – Ein aus Holz geschnitztes A. in der Kirche zu Herrieden bei Ansbach (15. Jh.) hat hochdrehbares Pult und betstuhlartigen Unterbau (Abb. 6).

III. Dem A. verwandt nach Aufbau und Entwicklungsgeschichte sind Lesepulte, die als Buchträger einen Pelikan oder Greif verwenden. Ein schönes Gelbgußpult mit Pelikan (15. Jh.) ist aus St. Germain zu Tirlemont in das Brüsseler Kunstgewerbemus. gelangt, ein holzgeschnitztes besitzt die Kirche in Zammel (Belgien). Das Lesepult in Andenne bei Namur (15. Jh.) hat 2 Tragflächen: ein Greif hält vor sich ein Pultbrett, wohl für die Epistel; auf seinem Rücken trägt er ein höheres für das Evangelium. Sie können durch drehbare Kerzenarme beleuchtet werden. – Über Lesepulte in menschlicher Gestalt vgl. Atzmann und Pultengel.

Zu den Abbildungen

1. San Giulio im Ortasee, Kanzel mit A., um 1100. Phot. Alinari, Florenz.

2. Paris, Bibl. Nat.: Album des Villard de Honnecourt, A. mit beweglichem Kopf. Nach H. Omont: Album de Villard de Honnecourt, Paris o. J., Taf. XLIV.

3. Entwurf eines A. von Villard de Honnecourt. Nach H. Omont, a. a. O., Taf. XIII. Die Beischrift lautet: Lutrin d’eglise. Ki velt faire 1 letris por sus lire Evangille, vés ent ci le mellor maniere que jo sace. Premiers a par tierre 4 sarpens, et puis une ais a 3 conpas de seure, et pas de seure 3 sarpens d’autre maniere, et colonbes de la hauture des sarpens, et par deseure 1 triangle. Après vos vées bien de confaite maniere li letris est; vés ent ci le portrait. En miliu des 3 colonbes doit avoir une verge, qui porte le pumiel sor coi li aile siet.

4. Dortmund, Marienkirche, 15. Jh., Adler aus Gelbguß, Sockel aus Stein. Nach Inv.

5. Düsseldorf, St. Maximilian, A. aus Kloster Altenberg b. Köln, ausgeführt unter Abt Johann von Koidinckoeven (1440–1462), Gelbguß. Phot. Bildarchiv des Rhein. Mus. Köln.

6. Herrieden bei Ansbach, Kirche, Holz, 15. Jh. Phot. Christoph Müller, Nürnberg.

7. u. 8. Köln, St. Johann, A. auf schmiedeeisernem Wandarm, Bronze, 18. Jh. Phot. Bildarchiv des Rhein. Mus. Köln.

Literatur

1. Hermann Lüer und Max Creutz, Gesch. d. Metall-K. I, Stuttgart 1904. 2. Georg Lehnert, Ill. Gesch. d. K.-Gew. II, Berlin o. J. 3. Victor Gay, Glossaire archéologique I, S. 13. 4. E. Reusens, Eléments d’Archéologie chrétienne II, Löwen 1886. 5. Rud. A. Peltzer, Gesch. d. Messingindustrie u. d. künstl. Arbeiten in Messing (Dinanderies) in Aachen u. d. Ländern zwischen Maas u. Rhein. Zs. d. Aachener Gesch.-Ver. 30, 1908, S. 235ff. 6. Kataloge der Ausstellungen in Düsseldorf 1902, Dinant 1903 u. 1907, Middelburg 1904, Lüttich 1905, Tournai 1911, Köln 1925.