Akt
englisch: Nude; französisch: Nu, étude de nu; italienisch: Nudo.
Kurt Karl Eberlein (1934)
RDK I, 282–288
Akt (lat. actus: Handlung; auf den Körper übertragen: Bewegung). Unter A. versteht man in der bildenden Kunst die am nackten Körper studierte Gebärde, Stellung, Bewegung. Ein A. ist also der ursprünglichen Bedeutung des Wortes nach stets mehr oder weniger eine Studie. Erst in neuerer Zeit ist die Bezeichnung verunklärt und ohne weiteres auf jede Nacktdarstellung ausgedehnt worden. – Der Weg führt von der Konstruktion zum Naturstudium, von der Meßfigur und Umrißfigur des Mittelalters zum Gedächtnis-A. und Modell-A. der Frührenaissance, im Kampf gegen Kirche, Moral, Proportionslehre. Helferin ist die neuentdeckte Antike und die neue Anatomie. Das Arbeiten nach dem A.-Modell (modello, l’ignudo dal naturale, designare da corpi naturali, modelli naturali, spogliare modello; ein jung oder alt nacket machen, mit abmachen nachkummen; naakte beeltjes na’t leven, modellen; académie; debuxo del desnudo) benutzt seit der Frührenaissance das bekleidete, dann das nackte Modell, das zunächst immer männlich ist: Lehrknaben, Gehilfen, Kollegen, Familienangehörige, Tote, Berufsmodelle. Auch für weibliche Figuren wurden, nicht nur im Kloster, männliche Modelle benutzt (z. B. Eva vom Bamberger Dom, Memlings Danziger Altar, Michelangelos Sibyllen, Caraccis Magdalena, Rubens’ Engel, Restouts Ariadne und Venus). Bis 1759 erlaubte die Pariser Akademie kein weibliches Modell, daher der Wert der Privatschulen. Das weibliche Modell, das als unsittlich und unebenmäßig galt, stellten die Bademägde und Badstubenfrauen (Pisanello, Dürer) – daher die A. mit Haube, Kopfkissen, Kübel und dem für die Eva typischen Badequast oder Badewedel, – die Huren (Dürer, Baldung, Beham), Künstlerfrauen (Dürer, Rembrandt, Rubens u.a. bis zu Thoma), Geliebten (Fra Filippo, Raffael, Sarto, Albani, Cellini u. a. bis zu Feuerbach und Canon), Berufsmodelle (seit 1450 „persone basse e plebee“). Kinder-A. sind in der Renaissance selten nach der Natur gezeichnet, meist nach Wachsmodellen (bozze di cera). Die ersten A.-Studien sind von Pisanello und gehören noch der mittelalterlichen „Mustersammlung“ an. Den Ersatzmodellen folgen die später überschätzten Berufsmodelle. Den ersten großen A.-Betrieb hat die Carracci-Schule. Die ersten A.-Porträts sind Adam und Eva vom Genter Altar; der Einfluß der „personnages“ und Mysterienbühne ist deutlich. Das A.-Porträt des entkleideten Menschen läßt sich bis heute verfolgen. Die Technik der A.-Zeichnung geht vom Silberstift über die Federzeichnung zur Krayonzeichnung. Die Darstellung des Modellstehens und A. - Zeichnens ist häufig: Dürer (Abb. 3), Rembrandt (Abb. 4), Steen, Houbraken, Sweerts, Le Prince, Heiß, Courbet u. a. Stand-A. und Bewegungs-A. folgen sich mit Rücken-A. und Doppel-A. zeitbedingt wie die Begriffe „grazia“ und „sforza“. Die A.-Stellung (l’atto, l’attitudine, azzione, gesto., posamento, movimento; vom Biegen, Stellung der Posen; welstandt, staende posturen; attitude, académie bienposée) geht von Leitmotiven zum freien Posieren in Ortsbewegung, Handlungsbewegung, zusammengesetzter Bewegung, vom einfachen Standmotiv der Pollajuolo-Schule zu Lionardos Regeln bis zu Michelangelos Drehungen (figura serpentinata) und zum A.-Reichtum der Plafondskunst. Dürer zeigt diesen Weg von der Statuenhaltung zur Bewegung deutlich (Apollo – Adam). Gründliches A.-Studium erweisen Dürer, Grünewald, Holbein im Gegensatz zu Altdorfer, Baldung, Cranach. Reichere A. -Motive ergeben in der Werkstattpraxis bis heute die A.-Stützen (Podium, Tisch, Matratze, Modellstab, A.-Seil, Schlinge, Ring, Stellmaschinen). Die A.-Verkürzungen, die Skurze (rittrare in iscorcio, scorzi, scurzi, scurti, scorti), sind kunstgeschichtlich wichtig, vor allem der Liegeskurz: Mantegna, Dürer, Baldung u. a.; Verfahren mit Glasscheibe und Netzrahmen, vgl. Dürer, B. 149 (Abb. 3), Stehskurz (das sottoinsu des 16. Jh.), Sitzskurz (mit Spiegelverfahren nach Lairesse), Schwebeskurz (16. bis 20. Jh.), Fall- und Fliegskurz (16.–20. Jh., bis zur Hängematte des Munkaczi). Die A.-Teilstudien folgen der Bewegungsskizze und werden aus Bildteilen zu selbständigen Bildern. Die Kopfstudie (profil, von vorn, aufblickend) wird zur Ausdrucksstudie (Dürer, Vier Temperamente, Hieronymus) und zur Selbststudie am Spiegel. So entstehen die physiognomisch gesteigerten „Caricaturen“ (Lionardo, Dürer, Carracci) und die têtes d’expressions der Pariser Akademie (Boucher, Vien, Greuze). Die Handstudie führt zur Individualhand (Dürer, Grünewald u. a. bis Leibi) und zur „schönen Hand“, Die Fußstudie (Dürers Fußsohlenstudie) zum Fußporträt. Die Lehre der in Italien entstandenen Akademien bringt als Abschluß der letzten Klasse das A.-Zeichnen (in Deutschland seit 1662), das in Paris der A.-Zeichnung den Namen „l’académie, la nature“ gibt (Abb. 5). Der A. wird Inbegriff der Akademie, die nach dem Vorbild des anatomischen Theaters den amphitheatralischen A.-Saal erhält. Zu den christlichen A.-Themen (Adam, Eva, Taufe, toter Christus, Schächer, Selige, Verdammte, Engel, S. Sebastian, Lazarus, Hiob u. a.) treten die weltlichen A.-Themen (Bad, Liebeszauber, Jungbrunnen, Vanitas, die drei Grazien, Fortuna, Apoll, Venus, Diana, Lucretia, Callisto, Leda, Susanna, Götter, Nymphen, Sagen, Allegorien, Embleme u. a.). Der Einfluß der von Paris ausgehenden A.-Aufnahmen, Daguerreotypien, Photographien, Veröffentlichungen auf die bildende Kunst ist trotz seiner Tragweite noch unerforscht. Selbstverständlich spiegelt auch der A. in der Kunst das Körperideal, den Sexualtyp, die Modedeformierung des Zeitgeschmacks (Nordtyp – Südtyp, Astartetyp – Infantiltyp, Hottentottenhabitus – Eunuchenhabitus, asthenisch–pyknisch, status gravidus, Schnürleib, Absatzschuh u. a. m.). Für das A.-Zeichnen nach Toten vgl. Anatomie. Für die A.-Konstruktion vgl. Proportion.
Zu den Abbildungen
1. Schloß Runkelstein (Tirol), Wandgemälde im sog. Badezimmer, gegen 1400. Phot. G. Ferrari, Bozen.
2. Wien, Kunsthist. Mus., Vanitasgruppe, schwäbisch, um 1500. Nach J. v. Schlosser, Werke der Kleinplastik II, Wien 1910, Tafel 1.
3. Dürer, Netzzeichner, Holzschnitt B 149, um 1525. Phot. Kupferstichkabinett Dresden.
4. Rembrandt, Der Zeichner nach dem Modell, unvollendete Radierung B 192, 1647? Phot. Kupferstichkabinett Dresden.
5. Edme Bouchardon (1698-1762), Bogenspanner, Rötelstudien zum Amor (Abb. 6), Paris, Louvre. Nach Inventaire general illustré des dessins du Musée du Louvre.
6. Edme Bouchardon, Amor, Marmorstatue voll. 1750, Paris, Louvre. Phot. Mus.
7. J. Schnorr v. Carolsfeld (1794–1872), Aktstudie a. d. J. 1820, Dresden, Kupferstichkabinett. Phot. Mus.
Vgl. auch die Abb. Sp. 249-50 u. 251-52.
Literatur
1. Jos. Meder, Die Handzeichnung, ihre Technik und Entwicklung, Wien 1919. 2. Jul. Lange, Die menschliche Gestalt in der Geschichte der K. von der zweiten Blütezeit der griechischen K. bis zum 19. Jh., Straßburg 1903. 3. Heinr. Bulle, Der schöne Mensch im Altertum, München 19233. 4. Artur Weese, Der schöne Mensch in Mittelalter und Renaissance, München 19222. 5. Herbert Hirth und Ernst Bassermann-Jordan, Der schöne Mensch in der Neuzeit, München 19222. 6. Wilh. Hausenstein, Der nackte Mensch in der K. aller Zeiten, große und kleine Ausgabe, München 1911 und 1913. 7. Ders., Der Körper des Menschen in der Geschichte der K., München 1917 (2. Aufl. von 6). 8. Reinhard Piper, Die schöne Frau in der Kunst, München 1918. 9. Berthold Haendke, Der unbekleidete Mensch in der christlichen Kunst seit 19 Jahrhunderten, Straßburg 1910. 10. Weizmann-Fiedler, Die Aktdarstellung in der Malerei vom Ausgang der Antike bis zum Ende des roman. Stils. Mit Abb. St. z. dt. K.-Gesch., 298. 11. Adolf Schinnerer, Aktzeichnungen aus fünf Jahrhunderten, München 1925. 12. I. G. Witkowski, Tetoniana, Curiosités médicales littéraires et artistiques, Paris 1898. 13. Rolf Voigt und Kurt Pfister, Hände, Hamburg 1929.
Empfohlene Zitierweise: Eberlein, Kurt Karl , Akt, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. I (1934), Sp. 282–288; in: RDK Labor, URL: <https://www.rdklabor.de/w/?oldid=89088> [05.04.2022]
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