Antiphonar (Liber Antiphonarius, Antiphonale)

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englisch: Antiphonary; französisch: Antiphonaire; italienisch: Antifonario.


Eberhard Lutze (1935)

RDK I, 729–732


RDK I, 727, Abb. 1. Kölnisch, um 1340. Köln, Wallraf-Richartz-Museum.
RDK I, 729, Abb. 2. Böhmisch, um 1360. Vorau (Steiermark).

Antiphonar (Liber Antiphonarius, Antiphonale), Gesangbuch für den Chordienst, das nach einer. Verordnung Ludwigs d. Frommen bereits 816 zu dem vorgeschriebenen liturgischen Büchervorrat des Priesters gehörte. Es enthält die Antiphonen (von ἀντί gegen, ϕωνή Stimme, Hall = Wechselgesang, Widerhall) und Responsorien (= Antworten) des Kirchenjahres: Wechselgesänge zwischen zwei Halbchören und dem Priester, welche sich aus Rahmenversen und den Psalmen zusammensetzen.

Einer altisraelitischen Tradition des Psalmodierens in Wechselgesängen und der Überlieferung des antiken Dramas folgend, bildeten die Antiphonen bereits im 2. Jh. einen Bestandteil der christlichen Liturgie. Das ambrosianische A. bringt Antiphonen für das gesamte Kirchenjahr. Um 534, dem Todesjahr Benedikts v. Nursia, hat sich die antiphonische Psalmodierung definitiv durchgesetzt. Die kanonische Sichtung, Berichtigung und Vervollständigung des Materials geht auf Gregor I. († 604) zurück. Das gregorianische A. setzt sich aus 2 Teilen zusammen, dem Responsorium und A. officii (Gesänge des Stundengebets) sowie dem A. missae (Meßgesänge). Im späteren Mittelalter ist der zweite Teil als besonderes Buch für den Meßdienst zusammengefaßt worden: das Graduale. Gewöhnlich beginnt der Text mit den Lektionen. Ihnen schließen sich Kalendar, Ostertafeln und die Gesänge an.

Als ältestes erhaltenes Exemplar des gregorianischen A. kann das A. von Bangor in der Ambrosiana zu Mailand gelten. Ein jüngeres Stück in St. Gallen (9.-10. Jh.) hatte man noch 1851 als Kopie des „authentischen“ gregorianischen A. publiziert [4]. Diese Frühwerke sind mit bedeutungslosen, ad hoc gefertigten Initialen verziert.

Die bildliche Ausstattung und reichere Dekoration des A. setzt um 1000 ein. Ein A. aus Kloster Prüm, um 990 (Ad. Goldschmidt, Die deutsche Buchmalerei, München 1928, II, Taf. 67), bildet bereits das üblich werdende ikonographische Schema aus: Szenen aus dem Leben Christi und Mariä, die sich inhaltlich den Antiphonen zum Kirchenjahr anschließen. Das berühmteste mittelalterliche A. ist das A. von St. Peter in Salzburg [5, 7, 8]. Ein Federzeichnungszyklus begleitet die Antiphonen des Offiziums und der Messe, in Deckmalerei sind das Widmungsblatt, der Kalender und die Vollbilder ausgeführt. Die Zyklen des Offiziums und der Messe ergänzen einander. Sie folgen dem Lauf des Kirchenjahres. Der Meßzyklus beginnt mit der Geburt Christi und schließt mit dem Traum Jakobs (29 teils 1-, teils 2zeilige Darstellungen). Der Zyklus des Offiziums bringt ergänzende biblische Szenen dazu. Er setzt mit dem Traum Josefs ein und schließt mit den Bildern Salomos, Hiobs und des Tobias (27 Szenen). Die Bildauswahl für die Feste der Heiligen ist von der in St. Peter üblichen Verehrung abhängig. U. a. werden in Bildern gefeiert: Benedikt, Martin, Rupertus, Stefanus. – Mit ganzseitigen Bildern in Deckmalerei sind die Hauptfeste Weihnachten, Epiphanias, Ostern und Pfingsten illustriert, ferner das Fest des Titelheiligen von St. Peter. Das Widmungsblatt zeigt die hl. Bischöfe Amandus und Rupertus kniend vor dem hl. Petrus.

Ein derartiger Reichtum wurde in den späteren Jahrhunderten nicht mehr angestrebt. Das 13. Jh. fällt für Deutschland so gut wie aus. Sechs A. im Chor der Franziskanerkirche zu Zara (Dalmatien) bringen um 1250 in byzantinischem Stil den neuen Illustrationstypus der Bildinitiale [7, Bd. VI, S. 15ff.]. Aus dem 14. Jh. sind zahlreiche Werke dieses Bildschemas erhalten; das Notenbild ist für die Disposition einer Blattseite entscheidend; Rankenwerk, Drolerien usw. umgeben den Satzspiegel, die figürliche Darstellung (biblische und legendäre Szenen) beschränkt sich auf Initialenfüllung. Auch die Stifterbilder fügen sich diesem Schema ein (Abb. 1). Als großartigste Arbeiten dieser Art sind 2 3bändige A. böhmischer Herkunft zu nennen. Das Wyschehrader in Vorau [7, Bd. IV, 1, S. 205ff.] und das A. des Erzbischofs Emil von Pardubitz in Prag (Inv. Böhmen II, 1: Prag, S. 236ff.). Das Vorauer ist ein Unikum, da es im 15. Jh. für die Bedürfnisse des steirischen Chorherrenstifts liturgisch und stilistisch umgearbeitet wurde (Abb. 2).

Im 15. Jh. ändert sich an der Ausstattung nichts mehr. Der Rankenschmuck macht die Wendung zur naturalistischen Blumen- und Blattleiste durch, der Buchstabenkörper legt sich wie ein Passepartout perspektivisch über die figürliche Füllung. Allgemein geht die Entwicklung dahin, daß die Illustration des A. hinter der des Graduale zurücktritt. Mit dem gedruckten Buch ist die Illustration des A. bedeutungslos geworden. Die im Barock angelegten handgeschriebenen Notenbücher beschränken sich auf qualitätlose aquarellierte Vollbilder und Initialenverzierung.

Zu den Abbildungen

1. Köln, Wallraf-Richartz-Mus., Einzelblatt aus einem Antiphonar des Kölner Klarissenklosters, um 1340. Bildseite zum Namenstag des hl. Franziskus von Assisi. Phot. Rhein. Mus., Köln.

2. Vorau (Steiermark), Stiftsbibl., Cod. 259, Wyschehrader Antiphonar. Miniator II: Böhmisch, um 1360–65, Bd. II, fol. 2: Bildseite mit Erschaffung der Eva. Nach [7] Bd. IV, 1: Paul Buberl, Die Stiftsbibliotheken zu Admont und Vorau, Leipzig 1911.

Literatur

Allgemeines: 1. Cabrol-Leclercq I, 2, Sp. 2440ff. 2. Jacques Paul Migne, Encyclopäd. Handbuch der kath. Liturgie, Breslau 1850, S. 501ff. 3. Wetzer u. Welte, Bd. I, Sp. 970f. – Denkmäler: 4. L. Lambillotte, Antiphonaire de saint Grégoire, fac-similé du manuscrit de Saint-Gall, Bruxelles 1851. 5. Karl Lind, Ein Antiphonarium mit Bilderschmuck aus der Zeit des 11. und 12. Jh. im Stifte St. Peter zu Salzburg befindlich, Wien 1870. 6. Georg Swarzenski, Die Salzburger Malerei von ihren frühesten Anfängen bis zur Blütezeit des romanischen Stils, Leipzig 1908, Text S. 108ff., Taf. XCIIIff. 7. Franz Wickhoff u. Max Dvořák, Beschreibendes Verzeichnis der Illuminierten Hss. in Österreich, Leipzig 1904ff. 8. Georg Swarzenski, Das Antiphonar von St. Peter in Salzburg, „Deutsche Kunst“, hrsg. vom Bayer. Nat.-Mus. München, I. Folge, H. 6, München 1922. 9. Curt H. Weigelt, Rheinische Miniaturen, Wallraf-Richartz-Jb. Bd. I, Köln 1924, S. 5ff.

Vgl. ferner die unter Buchmalerei genannten Werke.