Astwerk
englisch: Astwerk (gothic ornament in form of branches); französisch: Branchage; italienisch: Ornato in forma di rami.
Hans Wentzel (1937)
RDK I, 1166–1170
Astwerk ist eine besondere Art des gotischen Ornaments und dessen letzte Erscheinungsform. Es trägt seinen Namen nach dem charakteristischsten Bestandteil, dem laublosen Ast. – Vorformen des A. finden sich im 14. Jh.; die Zeit seiner allgemeinen Verwendung ist die Zeit um 1500, doch spielt es auch im 16. Jh. noch eine bedeutsame Rolle. – Im Gegensatz zu verschiedenen anderen gotischen Ornamentspielarten scheint das A. nicht in Zeichnung oder Graphik (Ornamentstich) erfunden und dann auf die Plastik angewandt worden zu sein, sondern es war in seiner Entstehung und Entwicklung an die Bildhauerei gebunden.
Vorformen des A. sind hauptsächlich an Arbeiten festzustellen, deren bildhauerischer Schmuck ornamentaler Art war, im besonderen an Chorgestühlen. In der Naturalisierung der romanischen oder frühgotischen Ranke zum Strauch oder zum Teil eines Baumes liegt eine Wurzel des A. (Kloster Loccum, Gestühl). Auf Chorgestühlen des 14. Jh. bilden sich – durchaus im Gegensatz zur gleichzeitigen Steinskulptur – Bäume mit dem besonderen Charakter von „Astbäumen“, wo nur der rein strukturelle hölzerne Charakter des Baumes, nicht das Blattwerk interessiert (Wienhausen, Äbtissinnenstuhl; Chorgestühle im Lübecker und im Ratzeburger Dom, in der Klosterkirche zu Doberan). Wenngleich sich diese Astbäume und Astranken von den Beispielen des 15. Jh. durch geringeren Reichtum unterscheiden, müssen sie als frühestes A. bezeichnet werden; sogar das allgemeine Blatt- und Rankenwerk nimmt auf Grund der besonderen Tendenzen dieser Werkstätten einen ausgesprochenen Astcharakter an (Lesepult aus Herford, Berlin, Schloßmuseum; Gestühl aus Altenberg, ebendort). Den betonten A.-Charakter behält das Ornament der Chorgestühle auch weiterhin (Maulbronn, Levitenstuhl; Teile des Ulmer Gestühls von Jörg Syrlin, 1469-74; Wiener Domchorgestühl, Chorgestühl in Memmingen, St. Martin, 1501). Jedoch vollzieht sich die Ausbildung des spätgotischen A. nicht nur auf Grund einer kunstgewerblichen Tradition; es bedurfte dazu eines stilistischen Impulses. Nach dem „weichen Stil“ vom Anf. 15. Jh. bringt die sog. „dunkle Zeit“ mit ihren besonderen stilistischen Merkmalen – Zerknittern und Zerreißen von ursprünglich gerundet verlaufenden Gewandpartien, Sprödigkeit der Oberflächenwirkung, Unruhe der Gesamtwirkung und vielfach gebrochene Linienführung – den An- stoß zu einer neuen Ornamentform, die ebenfalls spröder, härter, unruhiger, gebrochener wirkte als das Ornament des 13. und 14. Jh. Diesem Bedürfnis entsprach in ganz besonderer Weise das A., das sich nunmehr betont vom hochgotischen Laub- und Blattwerk lösen konnte. Zuerst tritt das A. vereinzelt auf – dort, wo es sozusagen motivisch berechtigt ist: bei der Wurzel Jesse, der Dornenkrone Christi. Dann dringt es in Gebiete vor, die bis dahin dem Blattwerk vorbehalten waren, Konsolen, Schlußsteine, Baldachine, vegetabilische Füllungen usw. Wir nennen als technisch subtile Höchstleistungen von A. der spätgotischen Holzskulptur: Hochaltar des Claus Berg in Odense (um 1520, Sp. 371/72 Abb. 4); Breisacher Hochaltar (1523-26); Marienaltar des Heinrich Douvermann in St. Viktor, Xanten (um 1536); Sakristeischrank aus dem Brixener Kloster Neustift auf Burg Kreuzenstein; Paramentenschrank in St. Michael zu Schwäbisch Hall; das Lesepult des Lübecker Doms; das Schap in der „Laube“ des Lüneburger Rathauses (Anf. 16. Jh.); nur als A. ist das Gestrüpp am Drachen von Bernt Notkes Stockholmer St. Georg (1489) zu verstehen. – Besondere Leistungen im A. hat die Steinskulptur in Südwestdeutschland zu verzeichnen; wir nennen die Balustrade mit Sonnenuhr von 1493 am südlichen Querschiff des Straßburger Münsters von Konrad Sifer? Vgl. Münchner Jb. N. F. 11 S. 233), die ein Gitterwerk aus laufenden Ästen darstellt, die Schlußsteine und die Reliefs aus dem Kreuzgang des Wormser Doms (letztere jetzt im Nordschiff: Wurzel Jesse, Grablegung usw. 1487ff.); im Südschiff eine 1489 datierte Koniole; Rahmen aus blattlosen Ästen zieren das Taufbecken des gleichen Doms (Abb. 1) und verwandte Arbeiten in Rheinhessen und in der Pfalz. Wir nennen ferner: die Kanzel des Regensburger Doms (1482), Baldachine am nördlichen Chorportal der Heiligkreuzkirche zu Schwäbisch Gmünd (um 1500), das prachtvolle A. am Sakramentshäuschen in Halle, St. Ulrich (um 1520), das Sakramentshaus aus Offenhausen auf Schloß Lichtenstein; Türen der Veste Coburg (um 1500), deren Rahmen aus knorpeligen, sich vielfach überkreuzenden Ästen bestehen; Nordportal der Schloßkapelle in Chemnitz (1525), Kanzel (1561) und Baldachin des Levitenstuhls des Freiburger Münsters. Die Formen des steinernen A. sind im allgemeinen härter und präziser als die des hölzernen, das stärker verspielt und bewegt zu sein pflegt. – Angeregt durch die Bildhauerei werden auch im Ornamentstich A. geschaffen, die wiederum als Vorlage für Schnitzereien dienen können (so geht der Relieffries mit dem Stammbaum Christi aus Herford im Schloßmus. Berlin auf einen Stich des Israhel van Meckenem zurück). Genannt seien: Meister E. S. „Johannes auf Patmos“ im Astkreis, Lehrs 149; Martin Schongauer „Füllung mit Eule“, B. 108, s. a. B. 115; Israhel van Meckenem „Querfüllung“, Geisberg 474, 1. a. Geisberg 472, 465; Daniel Hopfer „Astkrone“, B. 93. Bei Hopfer ist ausgezeichnet festzustellen, wie das spätgotische A. aufgelöst und entnaturalisiert wird durch das neue Renaissance-Ornament: eine Mischung aus A. und neuen Renaissance-Motiven die „Madonna in Eichelästen“ (Jessen, Meister des Ornamentstichs I, Berlin 1924, Taf. 58). – Obgleich die Daten der Ornamentstiche zum Teil sehr früh liegen, kann doch nicht angenommen werden, daß das A. ihre Erfindung ist. Dagegen sprechen zunächst die Formen des Ornamentstich-A.: sie sind im allgemeinen sehr weich und knorpelig und rankenartig verschlungen, haben selten die bestimmte und trockene Härte der eckigen, vielfach geknickten, aber schwer biegsamen Äste, wie sie die Bildhauerei herausgestellt hat; auch fehlt dem Ornamentstich die Tradition der Holzschnitzerei, die bis in das 14. Jh. zurückreicht; die Herausbildung des A. scheint eher an ein Material geknüpft, das der botanischen Grundform nahe kam, also an das Holz.
Mit der Aufnahme des A. in den Ornamentstich ergab sich zugleich eine Übernahme in die Goldschmiedekunst. Frühe Formen von A. bei Goldschmiedearbeiten wie an der Krankenpyxis in Wormbach i. W. (um 1400; Braun, Altargerät Taf. 61) oder an der Reliquienkapsel des Prager Domschatzes (um 1450; A. Podlaha-E. Sittler, Der Domschatz in Prag [Inv. Böhmen], Prag 1903, Nr. 117) oder auch an dem Halsband einer Stifterfigur in J. v. Eycks Madrider Lebensbrunnen (Pantheon 7, 1931, S. 190) erklären sich als Ableitungen aus der gleichzeitigen Holzskulptur. Das A. kommt hauptsächlich an Pokalen vor – als A. gebildet ist der Fuß, der Schaft und zum Teil der Deckel. Es ist möglich, daß die besondere Form der A.-Pokale auf Albrecht Dürer zurückgeht (O. v. Falke im Pantheon III, 266), und zwar auf den Nemesisstich B. 77; ein im Anschluß daran gearbeiteter Kelch bei E. Kris, Goldschmiedearbeiten usw., Wien 1932, S. 13, Taf. 14; vgl. auch den Apfelpokal im Nürnberger Germ. Nat.-Mus. (Pantheon III, 266). Unabhängig von süddeutschen Formen ist der schönste der A.-Pokale, der Birnbaumpokal des Benedikt Dreyer (Pantheon III, 260), der vielleicht überhaupt die vollendetste Form spätgotischen A. zeigt. A. an Meßkelchen: in Braunschweig, St. Ulrich und im Schloßmus. Berlin aus Schlesien (1575). Gute Beispiele von A. ferner an verschiedenen Stücken des Lüneburger Ratssilbers (Hirschschale, E. 15. Jh.; Becher 1522; Granatapfelschale 1535; Wurzel-Jesse-Pokal 1562; Eidechsenpokal 1599). An Birn- und Traubenpokalen hält sich das A. bis ins 17. Jh. (Traubenpokal des Jeremias Ritter, Nürnberg 1605-46). Doch gehört das A. im 17. Jh. durchaus schon zu den ungewöhnlichen Ornamentformen: Elfenbeinhumpen im Bayer. Nat.-Mus. (Kat. Berliner, Nr. 204); Stich des Meisters C. C. (Schule von Fontainebleau) „Deckelpokal“. Am längsten hält es sich, angeregt durch deutsche Vorbilder, an russischen Pokalen; ungarische Deckelpokale haben z. T. die sonderbare Form eines Astbündels (Pest, Privatbesitz, Anf. 16. Jh.).
In der Malerei spielt das A. entsprechend seinen besonderen historischen Entwicklungsbedingungen keine Rolle: das einzige prächtige Denkmal sind die Randzeichnungen Albrecht Dürers zu Kaiser Maximilians Gebetbuch.
Eine kurze Scheinblüte erlebt das A. noch einmal im 18. Jh. A., das in seiner Prägnanz spätgotischem A. nahekommt, wird von J. M. Hoppenhaupt d. Ä. im Neuen Palais in Potsdam verwandt („Jagdkammer“ mit prächtigen A.-Türrahmen; „Oberes Konzertzimmer“ mit Spiegeleinfassungen aus A.) und von Sartori im Potsdamer Stadtschloß („Gelbes Zimmer“ mit A.-Kranz mit Putten an der Decke). Im Gegensatz zu der unnaturalistischen Rocaille der Bauornamentik ist das A. beliebtes Staffagestück in der Porzellan-Kleinplastik: in der Form von Baumstümpfen mit laublosen Ästen an zahlreichen Meißener Figurengruppen, als Henkelform vornehmlich an Berliner Porzellanen („Japan. Tafelservice“, Modell Neuglatt 1769-70), an Fruchtkörben („Neues-Palais-Service“, Modell Relief-Zierrat, Berlin 1765-66) und besonders an den Pariser Goldbronzefassungen von Porzellan-Gruppen, Leuchtern usw. – Um 1790 wird gelegentlich natürliches A. verwendet, so für den ehemaligen Brückenübergang zwischen den beiden Türmen auf der Pfaueninsel oder für Möbel im Marmor-Palais in Potsdam (aus dem Holländischen Garten) – auch die Borkenhäuschen und die borkenausgelegten Kunstkammern des Berliner Schlosses erklären sich in diesem Zusammenhang.
Zur Abbildung
Worms, Dom, Taufstein, 1480-90. Phot. Kunstgesch. Seminar Marburg.
S.a. Sp. 1138 Abb.
Verweise
Empfohlene Zitierweise: Wentzel, Hans , Astwerk, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. I (1937), Sp. 1166–1170; in: RDK Labor, URL: <https://www.rdklabor.de/w/?oldid=88586> [04.04.2022]
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