Attika

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englisch: Attic; französisch: Attique; italienisch: Attico.


Dagobert Frey (1937)

RDK I, 1206–1212


RDK I, 1207, Abb. 1. Rom, Titusbogen, 81 n. Chr.
RDK I, 1207, Abb. 2. Florenz, Baptisterium.
RDK I, 1209, Abb. 3. Köln, Gürzenich, 1441-47.
RDK I, 1209, Abb. 4. Dresden, Schloßkapellenportal, 1555.
RDK I, 1211, Abb. 5. M. D. Pöppelmann, Entwurf für den Zwinger in Dresden, c. 1710-20.

Attika ist ein niedriges Geschoß oder eine Aufmauerung über dem Kranzgesimse.

Vitruv und die italienischen Architekturtheoretiker der Renaissance kennen die Bezeichnung nicht. L. B. Alberti umschreibt den Begriff beim Triumphbogen mit „super astructus paries“. Auch im Vocabulario Toscano dell’ arte del disegno von Filippo Baldinucci (1681) findet sich der Ausdruck nicht, eben so wenig im „Großen vollständigen Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste“ Bd. 1 (1732). Offenbar stammt er aus der französischen Klassik der 2. H. 17. Jh. Die Diderotsche Enzyklopädie bringt im 1. Bd. (1751) einen ausführlichen Artikel von Fr. Blondel, der zugleich die Begründung für die Benennung gibt: „attique, […] étage peu élevé qui sert à couronner & exhausser un bel étage, tel que celui qui se voit à Versailles du côté des jardins: on nomme cet étage supérieur attique, parce que sa proportion imite celle des bâtimens pratiqués à Athenes, qui étoient tenus d’une hauteur médiocre, & sur lesquels il ne paroissoit point de toits“. Die Verwendung der A. an Stelle einer Mansarde mit einem Dach darüber wird von Blondel ausdrücklich als zu seiner Zeit üblich erwähnt, wenn auch von ihm aus künstlerischen und praktischen Gründen abgelehnt. Die A. wird mitunter durch eine Ordnung geschmückt, die sich aber von den fünf Ordnungen unterscheiden muß (meist ohne Kapitelle). Ein A.-Geschoß kann auch zwischen zwei Hauptgeschosse eingeschoben werden („attique interpose, celui qui est situé entre deux grands étages“). Blondel gebraucht den Ausdruck auch für den Aufbau an Triumphbogen (als Beispiel genannt die Porte St.-Denis) und auch an Kaminen (attique de cheminée, le revêtissement de marbre ou de menuiserie, depuis le dessus de la tablette, jusqu’environ la moitié de la hauteur du manteau).Diese Kamin-A. des Barock ist schon im ausgehenden Mittelalter vorgebildet, indem statt der nach oben verjüngten Rauchhauben, wie sie im hohen Mittelalter üblich waren, cm lotrechter Aufbau über der Kaminöffnung errichtet wurde. Quatremère de Quincy’s Einteilung in kreisrunde A. an Kuppeln (Kuppelsockel), durchlaufende A., bekrönende A., die einen Teil des Dachfirsts verdecken und eingeschobene und falsche A. zwischen zwei Geschossen entwickelt auf Blondel fußend die Terminologie weiter.

Das älteste Beispiel eines attika-artigen Aufbaues findet sich am choragischen Denkmal des Thrasyllos in Athen (319 v. Chr.), wo die A., die als Sockel für die Aufstellung der beiden Preisdreifüße diente,erst nachträglich von seinem Sohn Thrasykles 271/70 v. Chr. aufgesetzt wurde (F. Reisch, Athen. Mitt. 13, 1888 S. 383). Attika-artige Aufbauten zeigen unteritalische Grabbauten nach Vasenbildern; datierte Beispiele bieten die palästinensischen Felsengräber in Petra unter ägyptischem Einfluß (1. Jh. n. Chr.). Die Entwicklung der A. vollzieht sich vor allem an römischen Torbauten und Triumphbogen. (Älteste Nachrichten über Triumphbogen 196, 190 121 v. Chr., über deren Aussehen nichts Näheres bekannt ist. Beim Bogen des Scipio Africanus vom Jahr 190 ist jedenfalls eine A. anzunehmen, da auf dem Bogen neun Bildwerke aus Bronze aufgestellt waren: cum signis septem auratis et equis duobus. Liv. 37, 3). Erhalten ist der Augustusbogen in Rimini vom Jahr 27 v. Chr. (Wöfflin in Rep. f. Kw. 16, 1883 S. 11ff.; Fr. Noack in Vortr. d. Bibl. Warburg 5, Leipzig 1925/26 S. 147ff. An der Porta Maggiore in Rom, errichtet von Claudius 52 n. Chr., dient die A. zur Maskierung der Wasserleitung. Ein frühes Beispiel römischen Einflusses auf griechischem Boden ist das Mithridatestor auf der Agora in Ephesos (4/3 v. Chr.; Edm. Weigand, Propylon und Bogentor in der östlichen Reichskunst, Wiener Jb. f. Kg. 5, 1928 S. 71ff.).

Der mittelalterlichen Baukunst ist die A. grundsätzlich fremd. Eine Ausnahme bildet bezeichnenderweise die romanische Baukunst Toscanas, in der sich, wenn auch in flächenhafter Umbildung, das antik-römische Aufbausystem erhielt (Protorenaissance). Die Sargmauer des Baptisteriums in Florenz (Abb. 2) bildet eine A. über dem Doppelgeschoß; ähnlich ist die strukturelle Bedeutung des oberen Halbgeschosses an der Fassade der Badia in Fiesole.

Die Spätgotik gelangt aus anderen Tendenzen zu attika-artigen Aufmauerungen; hier ist das Bestreben maßgebend, einen horizontalen Gebäudeabschluß zu gewinnen und das Dach möglichst zu verdecken. Dies führt zu versenkten Dächern (Grabendächern) hinter hohen Blendmauern. Ein Entstehungsgebiet ist Flandern und der Niederrhein (Nieuport, Tuchhalle; Köln, Gürzenich, Abb. 3; Wesel, Rathaus). Von hier gehen Einflüsse nach Danzig. Ein zweiter Ausgangspunkt ist Salzburg und das Inn-Salzachviertel (meist ohne Gesims und mit Zinnenkranz), von dem eine Auswirkung bis nach Niederösterreich (Stein a. d. Donau, Passauerhof) und nach Südböhmen (Budweis) zu verfolgen ist. Ein dritte Entwicklungsform ergibt sich in Sachsen und Nordböhmen aus der Engstellung und dem Zusammenwachsen von Zwerghäusern; über der attika-artigen Blendmauer sind daher meist kleine Halbkreisgiebel angeordnet (Halle a. d. Saale, Dom; Brüx i. Böhmen, Rathaus). Eine besondere Ausbildung erhält die A. im Ostraum als sog. „polnische A.“, unter böhmisch-schlesischem Einfluß, zu dem entscheidende oberitalienische Renaissanceformen hinzutreten (Venedig und Terraferma). Kennzeichnend für diese Sonderform sind Blendbogen an der A. und Zinnenbekrönung mit Voluten und Maskerons in oft bizarren Formen. Ältestes Beispiel: Krakau, Tuchhallen (Sukennice) von Gian Maria Padovano, nach 1555: Ausbreitungsgebiet: Polen, Nordungarn, Pomerellen, vereinzelt in Schlesien (Brieg, Haus am Ring, 1621). Die deutsche Renaissance erreicht an Portalen oft eine attika-artige Wirkung durch übermäßige Erhöhung des Frieses und verminderte Ausladung des Geisons, wodurch dieses dem Architrav angeglichen wird; als A. dürfen solche Formen nicht angesprochen werden (Wismar, Fürstenhof, Hauptportal; Brieg, Portal des Piastenschlosses). Mitunter erhält die Brüstung des Obergeschosses eine Doppeldeutigkeit, indem sie auch als A. des Untergeschosses aufgefaßt werden kann (Görlitz, Neißestr. 29). Am Franzenstor der Wiener Hofburg (1552) wird die A. durch seitliche Einrollungen zu einer gerahmten Inschrifttafel umgedeutet (atektonische Auffassung). Eine ausgebildete A. am Schloßkapellenportal in Dresden unter italienischem Einfluß (Abb. 4) und am Hohen Tor in Danzig von Wilhelm van den Block aus Mecheln (1586 bis 1588) unter flämischem Einfluß.

Der Barock entwickelt die A. zu einem ausgebildeten durchfensterten Halbstock, der entweder über der ganzen Gebäudebreite oder nur über den Mittel- und Eckrisaliten durchgeführt wird. Für die Bezeichnung als A.-Geschoß bleibt auch hier entscheidend die Anordnung über dem Hauptgesims. Beispiele: Entwurf Fischers von Erlach für die Wiener Hofburg (Hans Sedlmayr, Fischer von Erlach d. Ä., München 1925 Taf. 56, 57); Entwürfe für einen Pavillon des Zwingers (Abb. 5 und B. A. Döring, M. D. Pöppelmann, Dresden 1930 Abb. 9); Würzburg, Residenz; Stift Klosterbruck, Mittelpavillon (B. Grimschitz, J. L. von Hildebrandt, Wien 1932 Taf. 238); vielfach bei fünfgeschossigen barocken städtischen Miethäusern zur Stockwerkgruppierung. Auch in dem mehr klassizistischen Kunstkreis Norddeutschlands und Englands findet sich die A. nach palladianischen Vorbildern (Stoke Park nach Campbell, Vitruvius Britanicus).

Der Klassizismus vor allem der mittleren Periode (1785-1815) liebt schwere, wuchtende A., die meist blockhaft, vielfach ohne Abschlußgesimse ausgebildet sind. Beispiele: Langhans d. Ä., Brandenburger Tor; Georg Fischer, Prag, Zollamt; Stuttgart, Schloß Rosenstein (P. Klopfer, Von Palladio bis Schinkel, Eßlingen 1911 S. 173); Danzig, Stadttheater (ebd. S. 77).

Zu den Abbildungen

1. Rom, Titusbogen, voll. 81 n. Chr. Phot. Alinari, Florenz.

2. Florenz, Baptisterium, 11.-13. Jh. Phot. Alinari, Florenz.

3. Köln, Gürzenich, 1441-47. Nach Lithographie von A. Wünsch phot. Haus der Rheinischen Heimat, Köln-Deutz.

4. Dresden, Schloß, ehem. Portal der Schloßkapelle (Jüdenhofportal), 1555. Phot. Kunstgesch. Seminar Marburg.

5. M. D. Pöppelmann, Entwurf für einen Pavillon des Zwingers (erbaut 1711-22) zu Dresden. Phot. Landbauamt Dresden.

Literatur

(über die „Poln. A.“). 1. W. Husarski, Die poln. A., ihre Herkunft und ihr Einfluß, in: Sprawozdania z posiedzien Towarzystwa Naukowego Warszawskiego Jg. 26, 1933 S. 144. 2. J. Zachwatowicz, Die A. in Pomerellen, in: Biuletyn Historji Sztuki i Kultury Jg. II, 1933 S. 71.