Barlaam und Josaphat
englisch: Barlaam and Josaphat; französisch: Barlaam et Josaphat; italienisch: Barlaam e Giosafat.
Wolfgang Stammler (1937)
RDK I, 1452–1457
1. Die Legende und ihre Fassungen
In Indien formte sich unter den Buddha-Legenden eine Fassung heraus, die den Königssohn „Josaphat“ (dies die spätere griechische Namensform), d. i. Buddha, durch einen Einsiedler „Barlaam“ zum weitabgewandten und asketischen Leben bekehren läßt. Sie gelangt nach Palästina, wo sie ins Christliche umgedeutet und griechisch (angeblich von Johannes Damascenus) aufgezeichnet wird. Aus dem Griechischen flossen Übertragungen in andere Sprachen, darunter auch in die lateinische (12. Jh.). Diese erfreute sich bald großer Beliebtheit im Abendland. Ihre „Helden“ wurden als Heilige aufgefaßt, und die Geistlichen nahmen Beispiele aus der B.-Legende gern in ihre Predigten auf. Um 1225 dichtete Rudolf von Ems nach einer lateinischen Vorlage sein Epos „Barlaam und Josaphat“, das in über 20 Handschriften erhalten ist. Schon vorher hatte Bischof Otto II. von Freising (1184–1220) eine epische Bearbeitung des Stoffes versucht, die aber kaum Verbreitung fand. Später erfolgten dann noch weitere Bearbeitungen, wie auch Rudolfs Epos im 15. Jh. in Prosa umgegossen wurde. Auch französische Dichtungen haben den Stoff verwertet [1–3]. Ausführlich behandelt die Legenda aurea des Jacobus de Voragine das Thema (ed. Graesse S. 811; ed. Benz II S. 474ff.).
2. Die Illustration der Legende
Einzelne Handschriften der christlichen B.-Legende sind mit Ereignissen aus dem Leben des Königssohns J. und seines Lehrers B. illustriert. Als besonders reich ausgestattet nennen wir die griech. Codd. in Cambridge (Univ.-Bibl. Add. 4491) und Paris (B. N. 1128), sowie die lat. im Vatikan (Ottob. 269 von 1311) und in der Rossiana (Nr. 233, oberitalienisch, 1. H. 15. Jh.; Ill. Hss. 5. S. 114). Eine deutsche Hs. des frühen 16. Jh. in Berlin (Cod. germ. oct. 60) enthält nur zwei flüchtige Zeichnungen, die Flucht des Mannes vor den wilden Tieren (298 v) und den Mann im Brunnen (299 v). Ein Einzelbild in einem vielleicht aus Kloster Altenberg stammenden Miszellankodex der Landesbibl. Düsseldorf (B. 67; 1. H. 13. Jh.; H. Swarzenski, Die lat. ill. Hss. d. 13. Jh., Berlin 1936, Abb. 35) stellt die Bekehrung des Königssohns J. durch den Einsiedler B. dar. Schon früh erscheinen auch gedruckte Ausgaben der B.-Legende mit Holzschnitten. Um 1476 brachte Günther Zainer in Augsburg einen Druck mit 64 zum Teil mehrere Szenen zusammenfassenden Holzschnitten heraus, die 1480 von Anton Sorg wieder verwendet wurden (Schramm, Bilderschmuck der Frühdrucke Bd. 2, Abb. 545–608). Selbst die Barockzeit scheint noch zyklische Darstellungen der B.-Legende geschaffen zu haben; wenigstens erwähnt Goebel (Wandteppiche III, 2, S. 305, Anm. 62) aus einer Danziger Quelle von 1685 einen Teppich mit der „Historia Josaphats“ von über 10 Ellen Länge. Auf diese Darstellungen kann hier nicht weiter eingegangen werden. Wir behandeln nur das einzige Thema aus der B.-Legende, das häufiger und auch getrennt von den B.-Illustrationen dargestellt wurde und zu einem ikonographischen Kanon gelangte, die Legende vom „Mann im Brunnen“ bzw. dem „Mann auf dem Baum“.
3. Das Gleichnis vom Mann im Brunnen
Unter den Gleichnissen, mit denen der Eremit B. den Königssohn J. von der Welt abzuziehen sucht, befindet sich auch das vom „Mann im Brunnen“: Ein Mann (der Mensch) floh vor einem Einhorn (auch Löwe oder Kamel = Tod) und sprang in einen Abgrund (Welt), an dessen Abhang er sich an einem Bäumchen (Leben) festhielt. Da sah er zwei Mäuse, eine weiße (Tag) und eine schwarze (Nacht), die an den Wurzeln des Baumes nagten. Unter sich erblickte er einen Drachen (Hölle, Teufel); in den Ästen des Baumes aber sah er Honigtropfen (Freuden der Welt). Da vergaß er alle Angst und aß den Honig. – Uralte indogermanische Mythen von dem Weltenbaum, die in der buddhistischen Parabel moralisch umgefärbt und mit der orientalischen Idee des Lebensbaumes verquickt wurden, haben sich hier erhalten. Am bekanntesten ist uns das Gleichnis durch Friedrich Rückerts Gedicht: „Es ging ein Mann im Syrerland“ [2–5].
4. Die Darstellung des Gleichnisses
Die bildende Kunst hat das Thema vom „Mann im Brunnen“ (bzw. am Abgrund) von Anfang an aus künstlerischen Gründen meist in den „Mann im Baum“ abgewandelt. Wahrscheinlich hat zuerst der Osten das Motiv bildlich gestaltet. Der byzantinische Dichter Manuel Philes (etwa 1280–1350) beschreibt in seinen Epigrammen (ed. E. Miller, Paris 1855, Bd. 1, S. 126ff.) unter dem Titel: „Zum Bild des Lebens“ mehrfach Darstellungen der Parabel, und zwar regelmäßig in der „Baum“-Fassung. Erhalten haben sich solche außer in den illustrierten Handschriften der B.-Legende besonders in Psaltern als Illustration zu Psalm 143, 4: „Homo vanitati similis factus est; dies eius sicut umbra praetereunt“ (Tikkanen, Psalterillustration, 1895, S. 42). Als Beispiele seien genannt der 1066 datierte Psalter in London (Brit. Mus., Add. 19, 352), eine Handschrift des 12. Jh. im Vatikan (Barb. graec. 372, Abb. 1) und eine des 13. Jh. in Berlin (Hamilton Nr. 119): Vom Einhorn verfolgt rettet sich der Mann auf einen Baum; während er den Honig ißt, nagen an den Wurzeln des Baumes eine schwarze und eine weiße Maus; zu Füßen des Baumes, im Hades (personifiziert durch einen bärtigen Mann), lauert mit geöffnetem Maul der Drache. – In der abendländischen Psalterillustration ist die Darstellung selten; es sei auf einen französischen Psalter des späten 13. Jh. in englischem Privatbesitz verwiesen (Abb. 2). Etwas häufiger sind Darstellungen in der abendländischen Bildhauerkunst. Als frühestes, fast bis zur Unkenntlichkeit vereinfachtes Beispiel kann ein Kölner Brettstein des 12. Jh. aus Walroßzahn genannt werden (Petersburg, Ad. Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen III, Nr. 198). Sehr viel anschaulicher hat Benedetto Antelami das Thema in einem Bogenfeld des Baptisteriums zu Parma (beg. 1196) behandelt (Venturi III, S. 293): Ein Jüngling sitzt in den Ästen eines Baumes und labt sich an einem Honigstock, während zwei Mäuse an den Wurzeln des Baumes nagen und ein Drache auf den Sturz des Jünglings lauert. Eingerahmt wird das Hauptbild durch Medaillons mit den Personifikationen von Sonne und Mond, die den Gedanken von Tag und Nacht weiterspinnen. Ein Relief des späteren 14. Jh. am Portal der Capella S. Isidoro in S. Marco zu Venedig (Venturi III, S. 294) beschränkt die Szene auf den in einer Baumkrone ruhenden Jüngling und die beiden an den Wurzeln nagenden Mäuse. In Frankreich erscheint das Motiv um die M. 13. Jh. an der Tumba der Adelaide de la Champagne in Joigny; ein vornehm gekleideter Jüngling steht auf einem Baum, an dessen Wurzeln zwei drachenartige Wesen nagen [9] – Ein Wandgemälde im Kloster Lorch bei Schwäb. Gmünd mit deutschen Versen (aus Rudolf von Ems?) ist nur durch die Beschreibung in der Chronik des Martin Crusius bekannt: „Man sieht einen Baum, auf welchen jemand steigt. Das Honig fließt. Es sind zwey Mäuse, die unten den Baum benagen, eine weiße und eine schwartze. Der Tod sitzt auf einem schnell-laufenden Einhorn, und hält einen gespannten Bogen, worauf ein Pfeil ligt. Es sind Schlangen da, es ist ein Drach da. Dabey stehen teutsche Reimen, welche die Auslegung in sich halten ...“ (deutsche Übersetzung von Joh. Jakob Moser, 1738).
5. Abgeleitete Darstellungen
Von der in Abschnitt 3 und 4 behandelten Parabeldarstellung scheint abgeleitet das Bild auf einem niederdeutschen Falttisch im Mus. Cluny in Paris (um 1400, Abb. 3); es zeigt den Eremiten und den Königssohn zu beiden Seiten eines Baumes, an den ein Löwe angekettet ist; der Löwe versucht die Kette zu zerbeißen, an der auch eine Maus nagt. Deutlicher ist die Anknüpfung an die Baumparabel in einem deutschen Holzschnitt der Zeit um 1440 in Wien (Schreiber, Handbuch 4, Nr. 1867; Abb. bei F. M. Haberdizl, Die Einblattdrucke des 15. Jh. in der Hofbibliothek zu Wien, Bd. 1, Wien 1920, Nr. 168): Ein Jüngling („der frei wille“) steht auf dem Lebensbaum, dessen Stamm Tod und Teufel durchsägen. Mit der Linken greift er nach einem Kästchen mit Gold, das ihm der Teufel hinhält, während ein Engel und Gottvater in den Wolken ihn warnen. Auf eine ähnliche Vorstellung geht ein Wandbild in der Dorfkirche zu Bischoffingen am Kaiserstuhl zurück: In einem Baum („die welt“) sitzt ein modisch gekleideter Jüngling mit einem Falken in der Rechten, eine Schriftrolle in der Linken. An der Wurzel nagen eine weiße und eine schwarze Maus. Von links naht ein Einhorn („angest“), von rechts ein Ritter mit einem Beil und einem Kreuzschild (der Tod?). Über dem Jüngling sitzen auf Zweigen des Baumes ein Engel und ein Teufel; ganz oben thront Christus als Weltenrichter (Jos. Sauer, Freiburger Diözesanarchiv N. F. 10, 1909, S. 279). Ganz losgelöst von der B.-Legende, aber möglicherweise in Zusammenhang mit einer der letztgenannten Darstellungen wird der Kampf um die Menschenseele schließlich auf einer aquarellierten Federzeichnung um 1560/70 in der Art des Marcus Gheerard behandelt (Berlin, Kk. Nr. 13453; Kat. Bock-Rosenberg S. 65): Christus hält, von Fides und Caritas gestützt, den Hoffnungsanker, an dem der Mensch hängt; ihn bedrohen Mundus und Mors, Satan und Contientia (!).
Zu den Abbildungen
1. Rom, Bibl. Vat., cod. barb. graec. 372, c. 231 v. Psalter, Anf. 13. Jh. Nach L’Arte 7, 1904, S. 139.
2. London, Priv. Bes., Psalter, Amiens um 130c. Phot. Bibl. d. Staatl. Museen, Berlin.
3. Paris, Mus. Cluny, niederdeutscher Falttisch, um 1400. Ausschnitt. Phot. Archives Photographiques d’Art et d’Histoire, Paris.
Literatur
1. Gust. Ehrismann, Gesch. d. dt. Literatur bis zum Ausgang des MA, 2. Teil, Schlußband, München 1935, S. 27f. (dort die gesamte philol. Lit.). 2. Ernst Kuhn, Der Mann im Brunnen, Festgruß an O. v. Böthlingk, 1888, S. 68ff. 3. G. Zart, Die Rückertsche Parabel vom Mann im Brunnen, Zs. f. d. dt. Unterricht 12, 1898, S. 735ff. 4. J. Bolte, Zehn Meisterlieder Michael Beheims, Festschrift f. Kelle, Prag 1908, I S. 402ff. 5. P. Weizsäcker, Mittelalterl. Bildwerke vom Mann im Brunnen, Zs. f. d. dt. Unterricht 13, 1899, S. 736ff. 6. Künstle I, S. 201ff. 7. Molsdorf S. 252. 8. Ant. Muñoz, Le rappresentazioni allegoriche della vita nell’ arte bizantina, L’Arte 7, 1904, S. 130ff. 9. L. Pillion, Un tombeau français du 13e siècle et l’apologue de Barlaam sur la vie humaine, Rev. de l’art ancien et moderne 1910 II, S. 321. 10. Sirarpie der Nersessian, L’illustration du roman de Barlaam et Joasaph, Paris 1937 (angekündigt).
Empfohlene Zitierweise: Stammler, Wolfgang , Barlaam und Josaphat, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. I (1937), Sp. 1452–1457; in: RDK Labor, URL: <https://www.rdklabor.de/w/?oldid=89159> [05.04.2022]
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