Chorumgang

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englisch: Ambulatory; französisch: Déambulatoire, pourtour du choeur, carole; italienisch: Deambulatorio.


Ernst Gall (1953)

RDK III, 575–589


RDK I, 427, Abb. 24. Regensburg, St. Emmeram, Ostchor.
RDK I, 427, Abb. 25. Regensburg, St. Emmeram, Ostchor.
RDK III, 495, Abb. 6. Tours, St. Martin, 10. Jh.
RDK III, 497, Abb. 7. Flavigny, 9. Jh.
RDK III, 503, Abb. 14. Köln, Dom, 1248 beg.
RDK III, 505, Abb. 16. Lübeck, St. Marien, 2. H. 13. Jh.
RDK III, 507, Abb. 17. Schwäb. Gmünd, Hl. Kreuz, 1351 beg.
RDK III, 575, Abb. 1. Säckingen, 8./9. Jh.
RDK III, 577, Abb. 2. Füssen, 10. Jh.
RDK III, 579, Abb. 3. Sens, 10. Jh.
RDK III, 579, Abb. 4. Toulouse, 1096.
RDK III, 581, Abb. 5. Jerusalem, 326-35.
RDK III, 583, Abb. 6. Hildesheim, 1. Dr. 11. Jh.
RDK III, 583, Abb. 7. Basel, E. 12. Jh.
RDK III, 585, Abb. 8. St. Denis, 1140-44.
RDK III, 585, Abb. 9. Reims, 1210-41.
RDK III, 587, Abb. 10. Osnabrück, 1254-77 u. M. 15. Jh.
RDK III, 587, Abb. 11. Dillingen, 1610-17.

I. Begriff

Die wörtliche Deutung des Begriffs „Umgang um den Chor“ würde zu einer Erklärung führen, die das geschichtliche Werden fälschend vereinfachte. Während der Frühzeit, als der maßgebende Typus entstand, kann nur von einem Umgang um den Altarraum die Rede sein. Erst seit in der 2. H. 12. Jh. in den großen französischen Domkirchen der aus der Vierung verlegte Chor mit dem Altarraum zu einem, baulich gesehen, einheitlichen Raum verbunden war und dieser Brauch sich auch sonst verbreitet hatte, kann von einem „Umgang um den Chor“ gesprochen werden. Der Umgang diente seitdem nur noch einem Teil seiner urspr. Zwecke. Anfangs war er meist Umgang um die zum Hauptaltar gehörige Grabstätte, teils auch Zugang zu angebauten Mausoleen oder Kapellen gewesen; später führte er gewöhnlich zu dem den Chor und Altarraum umgebenden Kapellenkranz oder zu den in ihm selbst aufgestellten Altären, während der Chor mit dem Altarraum durch Schranken abgesondert war.

II. Frühe Vorstufen

a. Ein Umgang um die mit einem Altar überbaute Grabanlage eines Märtyrers oder Heiligen läßt sich in Form der Ringkrypta seit dem 8. Jh. in Italien nachweisen. Beispiele in Rom außer Alt-St. Peter: S. Quattro Coronati, S. Marco, S. Prassede u. a. Auch diesseits der Alpen sind solche Krypten aus dem 8. und 9. Jh. erhalten: St. Emmeram in Regensburg (RDK I 428 Abb. 24/25), St. Salvator in Werden, St. Maurice d’Agaune. Einen rechteckig gebrochenen Umgang statt der Halbrundform zeigen u. a. der Plan von St. Gallen (Sp. 493 Abb. 3), die Fraumünsterkirche in Zürich und die Stiftskirche in Säckingen (Abb. 1). In allen diesen Fällen handelt es sich um einen „accessum ad confessionem“ (s. Konfessio).

b. Außerdem gab es – nachweisbar in Deutschland seit dem 10. Jh. – Krypten mit Umgang um einen Altar unter einer überwölbten baldachinartigen Stützenstellung; sie mögen urspr. z. T. als offene oder geschlossene Missionskapellen gedient haben, wie dies für St. Wiperti zu Quedlinburg oder St. Mang in Füssen (Abb. 2) vermutet worden ist. Krypten wie die von S. Secondo in Asti, St. Aphrodise in Béziers oder die der Kathedrale von Chartres in ihrem ältesten Teil repräsentieren einen ähnlichen Typus.

c. Eine weitere Zweckbestimmung für den Umgang um den Altarraum hatte die ältere, noch konstantinische Basilica Apostolorum vor den Toren Roms (die spätere Kirche S. Sebastiano): hier war er zugleich Zugang für die dem Bau angefügten kapellenartigen Mausoleen, wie sie auch sonst mehrfach nachweisbar sind (z. B. bei Alt-St. Peter in Rom das Mausoleum der Probi u. a.). Wohlhabende fromme Gemeindemitglieder wünschten ihre Grabstätte „ad sanctos“ zu haben; der Umgang sollte den Zugang zu diesen peripheren Anbauten vermitteln, die gelegentlich einen sehr monumentalen Charakter zeigen, wie z. B. das Oktogon hinter dem Altarraum der Basilika von Siaggu in Nordafrika oder das von S. Maria Maggiore di Siponto.

Der „Portico Leoniano“ an S. Giovanni in Laterano zu Rom hat – wenn überhaupt altchristlich – liturgisch nichts mit einem Altarumgang zu tun (die Tribüne war der Platz für Bischof und Geistliche), es ist ein Verbindungsgang zu Anräumen.

Das Streben nach einem bevorzugten Bestattungsplatz im Schutze eines Heiligengrabes führte auch in Frankreich und Deutschland zu Anbauten mit entsprechendem Zugang. Es handelte sich dabei vornehmlich um Anlagen kirchlich-hierarchischen Charakters: Abt Ramwold baute sich eine Grabkapelle ö der Ringkrypta von St. Emmeram in Regensburg, die nunmehr auch den Zugang zu jener vermittelte; in Werden legte man für die Äbte und Bischöfe aus der Familie des Klostergründers Liudger eine ähnliche Kapelle an; weitere Beispiele in Chur, St. Lucius; Lyon, St. Nizier; Autun, St. Martin. Diese „Außenkrypten“ erhielten eigene Altäre, lie waren später vorzugsweise der Marienverehrung gewidmet.

III. Romanische Periode

Als der rasch an Umfang zunehmende Reliquienkult zahlreiche Altäre verlangte, lag es nahe, diese entsprechend jener älteren Übung in der Umgebung des Hochaltars zu gruppieren. Zunächst beließ man es bei ihrer Aufstellung in der Krypta, bald ging man aber dazu über, die für die Altäre bestimmten Kapellen dem Altarraum selbst anzugliedern. Hiermit vollzog sich eine entscheidende Wandlung, die schließlich zur Aufgabe der Krypten führte.

Nur mittelbar gehören in diesen Zusammenhang die mit einer Bogenstellung geöffneten Apsiden wie z. B. an der Basilica Severiana in Neapel, insofern auch hier eine bedeutsame Grabstätte von einem angebauten zweiten Kultraum aus sichtbar oder zugänglich sein lolite. Das führte gelegentlich zu einer Art Pseudoumgang wie in Dijon, St. Bénigne, wo eine große Rotunde hinter dem Grabe des hl. Benignus (dem hl. Johannes, Maria und der Dreifaltigkeit geweiht) in drei Geschossen mit dem Hauptbau durch Bogenstellungen verbunden war.

a. Die Entwicklung läßt sich seit karolingischer Zeit von der einfachen (Regensburg, St. Emmeram) oder doppelgeschossigen (Trier, St. Maximin) „Außenkrypta“, in denen mehrere Altäre Platz fanden, bis zu den mannigfachen Gruppierungen zahlreicher kleiner Einzelaltar-Kapellen wie in St. Philbert-de-Grandlieu, St. Germain in Auxerre, St. Pierre-le-Vif in Sens (Abb. 3), St. Pierre in Flavigny (Sp. 497 Abb. 7) oder Corvey verfolgen. Hierbei wurde es bald üblich, eine besonders stattliche Kapelle in der Längsachse der Kirche anzulegen und meist der Muttergottes zu weihen, ein Brauch, der in zahlreichen großen Bauten und besonders in England (Lady-Chapel) weiter lebte. Der überraschend reiche Wandel der Grundrißformen war nur verschiedenartiger Ausdruck des gleichen liturgischen Bedürfnisses, dem auch noch die reifen Lösungen typisch romanischer Form ihre Entstehung verdankten: die gestaffelte Anlage mehrerer Kapellen beiderseits des Altarraums wie in Cluny II und der „C. mit Kapellenkranz“. Die in den Kapellen aufgestellten Altäre dienten den Messen, zu denen die Priester der Stifts- oder Mönchskonvente täglich verpflichtet waren. Bei Anlage des C. mit Kapellenkranz war zugleich ein Prozessionsweg geschaffen, der eine prunkvolle Entfaltung kultischen Lebens ermöglichte.

b. Der „C. mit Kapellenkranz“ erscheint, soweit unsere Kenntnis reicht, fertig ausgebildet zuerst in St. Martin zu Tours (997–1015; s. Sp. 496 Abb. 6), einem Bau, der wegen seiner ungewöhnlichen Bedeutung im kirchlichen Leben Frankreichs gewiß vorbildlich wirkte. Die Zahl verwandter französischer Bauten war schon im 11. und 12. Jh. sehr groß.

Einige Beispiele: Clermont-Ferrand, Kathedrale; St. Bênoit s/Loire; Toulouse, St. Sernin (Abb. 4); St. Savin; Jumièges; Cluny III; Fécamp; St. Denis; Vignory. Es sind vorwiegend Kloster- und Wallfahrtskirchen oder Kathedralen, die wie Chartres ein berühmtes Gnadenbild besitzen.

Die klar gestaltete romanische Form, deren Genesis sich an einer Folge noch unentwickelter Beispiele verfolgen ließ, scheint im Aufbau mit ihrer lichten Stützenstellung dem Vorbild zentraler Bauten mit Umgang zu folgen, indem ein aus dem praktischen Bedürfnis entwickeltes Grundrißschema zur formalen Angleichung aufforderte. Es wäre geschichtlich oder liturgisch gesehen gleich falsch, den „C. mit Kapellenkranz“ als einen an die Basilika angeschobenen halbierten Zentralbau zu erklären, aber die letzte formale Durchbildung ging wohl aus einer künstlerischen Assoziation dieser Art hervor, wobei das Vorbild der Grabeskirche in Jerusalem (Abb. 5) von Bedeutung gewesen sein mag, die am Umgang Kapellen hatte; vgl. in diesem Zusammenhang die Krypta von Montmajour.

In Frankreich kommen nur wenige Bauten vor, die einen echten Umgang (nicht zu verwechseln mit den Pseudoumgängen zweischaliger Apsiden wie in Tournai, Morienval u. a.) ohne Kapellenkranz aufweiten (St. Saturnin, Champagne, Bois-Ste. Marie, Veauce); hier ist im Spätstil des 12. Jh. eine urspr. zweckgebundene Form vereinfacht und vor allem um ihrer ästhetischen Vorzüge willen verwendet. Sehr zahlreich sind dagegen die Bauten mit Kapellen an der Apsis des Altarraums in ringförmiger Anordnung ohne Umgang (z. B. Cahors, Angoulême), ein deutlicher Hinweis auf das eigentlich formbedingende Motiv.

In Deutschland und den unmittelbar benachbarten Gebieten des alten Imperium ist die 844 geweihte Klosterkirche von Corvey das älteste bekannte Beispiel für eine Art C. Er hatte auf jeder Seite eine kleine rechteckige Altarnische, dazu eine größere kreuzförmige Scheitelkapelle; dagegen fehlte eine zum Altarraum sich öffnende Bogenstellung. Als Beispiel eines ottonischen C. wird neuerdings der Westchor der Hildesheimer Michaeliskirche (Abb. 6) bezeichnet. Schon die Tatsache, daß der Umgang um die Krypta, zu der er in Bogenstellungen geöffnet ist, nicht die Fortsetzung der Seitenschiffe bildet, sondern sich zum Querhaus nur mit sehr schmalen, wohl meist verschlossen gehaltenen Türen öffnete, während der Hauptzugang offenbar im Scheitel lag, zeigt, daß es sich hier um eine durchaus besondere Anlage handelt. Sie sollte den Zutritt zur Krypta von Westen her ermöglichen, ohne daß die Pilger die Mönchskirche selbst zu betreten brauchten; das Obergeschoß in Höhe des Altarraumes war kein C., sondern ein Gang im schräg gedeckten Dachraum des Kryptenumgangs, der zu einem Außenaltar im Scheitel der Apsis führte. Dieser war anscheinend für kirchliche Feiern bestimmt, bei denen die Wallfahrer westlich der Kirche im Freien standen. Die Kölner Kirche St. Maria im Kapitol mit ihren drei von Umgängen umzogenen Konchen gehört nur mittelbar in diesen Zusammenhang, genetisch gehört ihr O-Teil in die Gruppe der Zentralbauten (vgl. die sehr ähnliche Grundrißskizze Leonardos, Paris, Bibl. de l’Institut de France, Ms. B, p. 35v). Der älteste echte C. mit Kapellenkranz nach französischem Vorbild findet sich in Hildesheim, St. Godehard; es folgen der Magdeburger Dom, sowie die Zisterzienserkirchen von Heisterbach, Marienstatt und Riddagshausen. Ohne Kapellen waren urspr. die C. der Dome zu Münster und Breslau; der Umgang des Doms zu Basel (Abb. 7) hat kleine Nischen für die Altäre innerhalb der Außenwand, doch ist der Aufbau höchst eigenartig, indem der Fußboden des Umganges gleiches Niveau mit dem der Krypta hat, sein Gewölbe aber erst in Höhe der Apsisarkaden ansetzt. In der Liebfrauenkirche von Maastricht ist das doppelgeschossige System der normännischen Apsiden mit der Außenwand aus zwei Schalen, deren innere in Arkaden aufgelöst ist, wie in der Kathedrale von Tournai und in der ehem. Westapsis der Stiftskirche von Nivelles zu einem Umgang mit Empore erweitert, der aber immer noch wesentlich schmaler bleibt als die Seitenschiffe.

In Italien finden sich C. ohne Kapellen in S. Stefano in Verona und am Dom zu Ivrea; ihre zeitliche Stellung und ihre Bedeutung ist unsicher; die italienischen C. mit Kapellen (S. Antimo; Venosa, S. Trinità; Acerènza, Dom; Aversa, Dom) gehen fraglos auf französische Vorbilder zurück. Französischer Herkunft sind auch die englischen C., sie zeigen aber eigene Züge wie die tangential gestellten Kapellen (Canterbury, Norwich); auch wurde die Zahl der Kapellen beschränkt (Gloucester) oder man begnügte sich mit der Lady-Chapel in der Längsachse (z. B. Winchester, Bury S. Edmunds). In Spanien ist der C. nicht häufig, die wenigen Beispiele sind französischer Abstammung (S. Jago de Compostela, Zisterzienserkirchen Poblet und Veruela).

Der C. mit Kapellenkranz in seiner klassischen Gestaltung ist eine ausgesprochen französische Bauform, rational im Aufbau, innen wie außen gleich wirkungsvoll. Die Reformbestrebungen strenger Observanz wie die der älteren Cluniazenser und Zisterzienser lehnten ihn zunächst ab, oder wandelten ihn im weiteren Verlauf zu einer asketisch vereinfachten Form, wie sie in Clairvaux II, Cîteaux III oder Pontigny gegeben ist. Der C. mit Kapellenkranz war also für das 11. und 12. Jh. ein Ausdruck hochkirchlicher Repräsentation, weshalb ihn später auch die Bettelorden wieder ablehnten, während er überall da aufgenommen wurde, wo es sich bei reich entfaltetem kultischem Leben auch um dessen bauliche Demonstration handelte, ein Streben, dem schließlich bis zu einem gewissen Grade auch die Zisterzienser nachgaben (Longpont, Ourscamp, Altenberg). In diesem Zusammenhang ist es sehr charakteristisch, daß der prachtliebende Abt Suger von St. Denis, andersdenkend als der hl. Bernhard, beim Neubau der Abteikirche 1140 einen besonders kunstvoll angelegten und kostbar ausgestatteten C. errichten ließ (Abb. 8).

IV. Gotik

a. Im Zeitalter der werdenden Gotik nahm mit dem durch Einbeziehung des Chors erheblich erweiterten Altarraum auch der C. eine neue Gestalt an. Im Gegensatz zu früher waren es jetzt vornehmlich die Kathedralen, die den neuen Typus formten, der vorbildliche Bedeutung für das nördliche und westliche Europa gewann. In vollendeter Prägung zeigt die Reimser Kathedrale die gotische Form (Abb. 9): der Umgang beginnt am Querhaus mit zwei etwa gleich breiten Seitenschiffen zu beiden Seiten des tiefen Chores, an der Apsis setzt an Stelle des äußeren Seitenschiffes der fortlaufende Kranz der Kapellen ein, von denen die mittlere im Scheitel größer ist als die anderen. In Reims sind es 5, in Amiens 7 Kapellen.

Für die Vorstufen bieten die Kathedralen von Noyon und Senlis sowie die Abteikirche St. Rémy in Reims Beispiele. In Soissons ist das Gewölbe jeder Kapelle mit dem des Umgangs zusammengezogen, ebenso in Bayonne, Quimper, Utrecht, Tournai, Uzeste und vorher schon in St. Maclou zu Pontoise nach dem Muster des äußeren Umgangs in St. Denis. Keine Kapellen, dafür aber einen doppelten Umgang hatte urspr. die Pariser Kathedrale; wenigstens im Grundriß ähnlich ist die Kathedrale von Bourges, wenn auch mit kleinen angehängten Kapellen, aber sie ist sehr verschieden im Aufbau, denn der innere Umgang ist mehr als doppelt so hoch wie der äußere und hat eigene Fenster. Diese gestaffelte Anlage kennzeichnet auch die Kathedralen von Beauvais, Coutances, Le Mans und Toledo, Bauten, in denen der C. seine reifste Gestalt in räumlich gesteigerter Dynamik gewonnen hat. In Le Mans sind Kapellen an der gesamten Peripherie des äußeren Umganges angeordnet, wieder mit Hervorhebung der mittleren; im ganzen sind es 13.

Die Vermehrung der Kapellen ist für die spätere Zeit des 13. Jh. charakteristisch.

An der Pariser Kathedrale wurden sie damals hinzugefügt, und zwar zwischen den Strebepfeilern, so daß der äußere Abschluß wenigstens im unteren Teil von einer plastisch gegliederten Wand als einer Art Sockelgeschoß für die mächtigen Strebebögen darüber gebildet wird.

Die zahlreichen Kapellen sind Ausdruck eines neuen lebendigen Anteils der Laienwelt am kirchlichen Leben. Während die romanischen Kirchen nur Kapellen in unmittelbarer Nachbarschaft des Chores als Ausdruck hierarchischer Ordnung kannten, lehnen sich an die Seitenschiffe der gotischen Domkirchen meist zahlreiche von Korporationen und einzelnen Familien gestiftete Kapellen. Ähnlichen Altarstiftungen und der damit verbundenen größeren Zahl der Priester verdankte auch die wachsende Zahl der Kapellen am C. ihre Entstehung. Eine bürgerliche Welt war groß geworden und bestimmte den neuen Charakter der Bauten.

Der C. erwies sich als sehr wandlungsfähige Form, nicht nur, daß die Zahl der Kapellen je nach dem Bedürfnis variiert werden konnte (nur eine in Sens und Auxerre, 3 in Metz, Lisieux und Rouen, auch mehr als 5 oder 7 sind häufig, Toulouse hat sogar 17), ebenso war ihre Form und die Art ihrer äußeren Begrenzung sehr verschieden gestaltet; gerader Abschluß zwischen den Strebepfeilern nicht nur bei den Zisterziensern, sondern auch sonst, ähnlich der Pariser Kathedrale (Beispiele: Evron, Eu); andere erstrebten wenigstens einen einheitlich umlaufenden Dachansatz und nahmen daher brückenartige Verbindungen zwischen den eckig gebrochenen Kapellen zu Hilfe (Beispiel: Bayeux). Eigenartige Gruppierungen bieten u. a. St. Quiriace in Provins (drei Kapellen bilden gemeinsam eine gerade O-Wand), Caudebec, Bernay, St. Severin in Paris.

Charakteristisch für die Spätgotik ist – wie die hier zuletzt genannten Bauten zeigen – das Streben nach räumlicher Verschmelzung und Weite unter Verwertung perspektivisch wirksamer Überschneidungen, sowie Zusammenfassung des Baukörpers im Äußeren bei großem Reichtum dekorativer Schmuckformen.

Der C. wurde die im nördlichen Frankreich allgemein übliche Bauform. Sie entsprach mit ihrer Stützenstellung sowie der aus der Idee einheitlicher Gesamtgliederung abgeleiteten Struktur besser als eine nur von Fenstern durchbrochene Apsiswand der französischen Auffassung vom Wesen des Baues als einem rational geordneten Gliedergefüge. Der C. blieb daher nicht auf Dom- und Stiftskirchen beschränkt. Auch die größeren gotischen Pfarrkirchen verwandten ihn häufig (Beispiele in Paris: St. Germain l’Auxerrois, St. Leu – St. Gilles, St. Médard, St. Gervais). In Südfrankreich ist der C. seltener (Beispiele: Narbonne, Toulouse, Rodez) und offenbar nur unter dem Einfluß nördlicher Vorbilder verwirklicht worden; daneben finden sich mehrfach Kapellen am Chor ohne Umgang wie in La Chaise-Dieu und St. Bertrand-de-Comminges.

b. Von den deutschen Domkirchen des späteren MA haben Köln (Sp. 504 Abb. 14), Prag, Metz, Lübeck, Schwerin und Augsburg den C. mit Kapellenkranz übernommen. Halberstadt hat nur eine Marienkapelle in der Längsachse, dazu aber zahlreiche Altäre im Umgang selbst, ähnlich begnügte sich Verden mit dem Umgang ohne Kapellen, in Osnabrück (Abb. 10) baute man erst um Mitte 15. Jh. einen eckig gebrochenen Umgang um den älteren Altarraum, dessen Wände man aber nicht durchbrach: ein deutlicher Hinweis auf die gegenüber den ältesten Altarumgängen durchaus veränderte Zweckbestimmung, die aber auch sonst aus der Anordnung der Chorschranken erschlossen werden kann. In Straßburg hat man auf den Neubau des Chores verzichtet, ein sehr bezeichnender Vorgang, lag doch die Bauleitung in Händen der Stadt, die ihre Mittel lieber dem Fassaden- und Turmbau zuwandte, als einem neuen Bau für das Domkapitel. Viele Domkapitel begnügten sich mit ihren alten Bauten (Mainz, Speyer, Worms, Bamberg, Konstanz, Freising, Merseburg, Salzburg, Naumburg, Trier, Paderborn, Würzburg, Minden) oder blieben doch dem älteren Typus ohne Umgang treu (Regensburg, Eichstätt, Passau, Meißen). Es sind auch nur wenige Klöster gewesen, die ihre Gewohnheiten einer neuen Bauform zuliebe aufgaben (z. B. Hildesheim, St. Andreas; Braunschweig, St. Ägidien; Kolmar, St. Martin; Worms, Liebfrauen), vornehmlich folgten die Zisterzienser dem französischen Brauch (Altenberg, Doberan, Zwettl, Lilienfeld, Münchengrätz, Podlec, Kaisheim).

Um so eifriger bemächtigte sich das Bürgertum für seine Stadtpfarrkirchen der neuen repräsentativen Form und zwar überall dort, wo es galt, dem Lebenswillen des neuen, nunmehr führenden Standes auch baulich sichtbaren Ausdruck zu geben; in erster Reihe standen hier die Seestädte Lübeck (Sp. 506, Abb. 16), Stralsund, Rostock, Wismar und Stettin, aber auch andere Hansestädte wie Lüneburg, Stargard, Frankfurt a. O., Berlin, Brandenburg, Tangermünde, ferner Königsberg i. Neumark und kleine ostdeutsche Orte, z. B. Treptow, Beeskow, Guben und Neiße. In Böhmen waren es aufstrebende Gemeinden (Kolin, Kuttenberg, Brünn), ebenso in Schwaben und Franken (Gmünd, Nürnberg, Amberg, Dinkelsbühl, Hall), sowie in Bayern (Landshut, Ingolstadt, Wasserburg, München), Salzburg (Pfarrkirche St. Marien, spätere Franziskanerkirche) und Tirol (Bozen). Am Oberrhein wetteiferte Freiburgs Pfarrkirche mit den Kathedralen des Westens, in den Niederlanden wurde der C. nicht nur ein Kennzeichen der Domkirchen (Utrecht, Hertogenbosch, Antwerpen), die Pfarrkirchen in Brüssel, Brügge, Gent, Haarlem, Dordrecht, Breda, Alkmaar, Rotterdam u. a. wollten nicht zurückstehen, Wesel und Norden schlossen sich an.

Die deutschen Pfarrkirchen und wenig später auch die österreichischen Zisterzienser gelangten mit der Übertragung des C. auf die Hallenkirche zu einer neuen, durchaus eigenartigen Form des „Hallenchors“, bei dem der Umgang gleiche Höhe mit dem Altarraum hat. Die Kapellen – sofern sie nicht, wie z. B. in Dinkelsbühl, überhaupt fehlen – wurden zunächst (Gmünd) als wenig tiefe Nischen geringerer Höhe zwischen die Strebepfeiler (wie schon an der Pariser Kathedrale) eingegliedert; später erhielten auch sie gleiche Höhe (München, Danzig) oder sie wurden wie in Amberg zweigeschossig mit Emporen angelegt; diese bilden in Schneeberg bei anderer Anordnung der Strebepfeiler eine umlaufende Galerie.

Das älteste Beispiel des „Hallenchors“ ist die Hl. Kreuzkirche in Schwäb. Gmünd (1351 begonnen; Sp. 507 Abb. 17); in der Zisterzienserkirche Zwettl sind die Kapellen wohl 1343 angefangen, aber der eigentlich entscheidende Aufbau begann erst nach 1360. Die städt. Pfarrkirche in Gmünd ist sicher keine Nachahmung der Zisterzienserklosterkirche, wie gewöhnlich angenommen wurde.

c. Während in Spanien die C. im allgemeinen französischen Vorbildern folgten (Beispiele in Toledo, Burgos, Leon, Valencia, Granada, Segovia, Avila, Barcelona u. a.), ebenso in Italien, wo sie seltener anzutreffen sind (Beispiele S. Francesco und S. Petronio in Bologna, S. Antonio zu Padua, Dom zu Mailand), bewahrte England neben nicht häufigen Bauten nach französischem Muster (wie z. B. Westminster) seine durchaus insulare Eigenart mit den sehr langgestreckten, meist gerade geschlossenen Chorbauten, deren Seitenschiffe sich im Osten zu einer Art rechtwinklig gebrochenem Umgang vereinen mit dem „Retrochoir“ und einer größeren Kapelle (Lady-Chapel) in der Längsachse. Regelmäßig steht im „Retrochoir“ der Schrein des örtlich besonders verehrten Heiligen (z. B. in Canterbury Thomas Becket, in Durham Cuthbert), zu dem der Umgang als Prozessionsweg führt; Beispiele: in einfachster Form Romsey; reicher entwickelt Salisbury, Lincoln, Exeter.

War der C. zu romanischer Zeit in erster Linie Ausdruck klösterlich-hierarchischer Lebensführung gewesen, indem der Umgang den Prozessionen des Konvents und die Kapellen den priesterlichen Messen dienten, so wurde er in den gotischen Domkirchen, wo er um den von Schranken umschlossenen, jetzt mit dem Chor verbundenen Altarraum führte, auch ein Teil des den Laien zugänglichen Kirchenraums und vor allem in den großen städtischen Pfarrkirchen eine Stätte bürgerlicher Frömmigkeit, von der die Altarstiftungen, Grabdenkmäler und Epitaphien zeugen.

V. Renaissance und Barock

Renaissance und Barock hatten im allgemeinen keine Verwendung mehr für den C., insbesondere entsprach er nicht dem barocken Streben nach prunkvoller, alles zu einheitlicher großräumiger Wirkung vereinigender Schau. In Paris gehörte er freilich so sehr zum baulichen Bestand, daß er bis ins 18. Jh. weiterlebte (St. Etienne-du-Mont, St. Eustache, St. Sulpice, St. Roch); eine ältere Tradition setzte auch St. Peter in Gent fort.

Brunelleschi’s Kirche S. Spirito in Florenz kann liturgisch nicht eigentlich zu den Bauten mit C. gerechnet werden: der Altar steht in der Vierung, und die um das Querhaus und den ö Kreuzarm herumgeführten Seitenschiffe entsprechen vornehmlich künstlerischen Erwägungen. Als Ausnahme folgt der Dom von Pienza dem Muster deutscher Hallenchöre. Im 17. Jh. erhielt die Kirche S. Carlo al Corso in Rom einen kapellenlosen Umgang als Fortsetzung der Seitenschiffe. Einen Umgang mit Kapellenkranz hat die Kathedrale von Cadiz.

In Deutschland wurde die gotische Tradition gelegentlich noch eine Zeitlang in Wallfahrtskirchen aufrechterhalten (z. B. in Tuntenhausen). Im frühen 17. Jh. wurde um den Altarraum der Zisterzienserkirche Wettingen ein eckig gebrochener Umgang nebst zwei Kapellen angelegt, der gegen den Altarraum selbst völlig geschlossen ist. Der Umgang lebte im übrigen in veränderter Gestalt mit neuer Zweckbestimmung, vor allem als oberer Zugang zu einem zweiten, auf einer Empore aufgestellten Altar weiter (Beispiele: Polling, Andechs, Vilgertshofen, Wies); im allgemeinen wurde er ein bloßer Verbindungsgang hinter dem Hochaltar zwischen Sakristeien, Oratorien und sonstigen Nebenräumen, der von innen nicht gesehen werden füllte und nur außen als Anbau an den Altarraum in Erscheinung tritt; in dieser Form ist er namentlich bei den Jesuitenkirchen häufig (München, Dillingen [Abb. 11], Neuburg, Paderborn u. a.), aber auch sonst (z. B. Kiritein, Weingarten, Maria Limbach, Ingolstadt, Ottobeuren).

Zu den Abbildungen

1. Säckingen, Kr. Waldshut (Baden), ehem. Nonnenklosterkirche, Grundriß der Krypta. 8./9. Jh. Nach Zs. f. Kg. 8, 1939, 263.

2. Füssen (Bay. Schwaben), St. Mang, Grundriß der Krypta. Zustand nach Bauaufnahme durch B. H. Röttger. 10. Jh. Nach Festschrift zur 1200-Jahrfeier von St. Magnus, Füssen 1950, Taf. geg. S. 33.

3. Sens, St. Pierre-le-Vif, Grundriß der Krypta. 10. Jh. Nach Jean Hubert, L’art préroman, Paris 1938, Abb. 54.

4. Toulouse, St. Sernin, Grundriß. Chor gew. 1096. Nach E. Carthailhac, Notes sur Toulouse, Toulouse 1925, S. 43.

5. Jerusalem, Grabeskirche, Grundriß der Rotunde. 326–335. Nach Dehio – v. Bezold I Taf. 9.

6. Hildesheim, St. Michael, Aufriß des Westchors. Krypta gew. 1015, Kirche gew. 1033. Rekonstruktion nach Hartwig Beseler in: Beiträge zur Kunst des MA, Berlin 1950, S. 177.

7. Basel, Dom, Aufriß des Chors. Ende 12. Jh. und 1356–63. Nach Hans Reinhardt, Das Basler Münster, Basel 1926, Abb. 17.

8. St. Denis, Abteikirche, Grundriß des Chorumgangs. 1140–44. Nach E. Gall, Gotische Baukunst, Leipzig 1925, S. 49, Abb. 15.

9. Reims, Kathedrale, Grundriß. Chor 1210–41. Nach Louis Demaison, La cathédrale de Reims, Paris (1925).

10. Osnabrück, Dom, Grundriß des Chors. 1254–77, Umgang M. 15. Jh. Nach Inv. Hannover IV, 1, Taf. III.

11. Dillingen, Studienkirche, Grundriß. 1610–17 von Hans Alberthal. Nach D. Keßler, Der Dillinger Baumeister H. A., Dillingen (1943), Taf. II.

Literatur

1. E. Gall, Studien zur Geschichte des Chorumgangs. Monatshefte für Kstwiss. 5, 1912, 134–49, 358–76, 508–19. – 2. R. Wallrath, Zur Bedeutung der m.a. Krypta (Chorumgang und Marienkapelle), in: Beiträge zur Kunst des MA (Vorträge der Kunsthistorikertagung Brühl 1948), Berlin 1950, 54–69.

Verweise