Christus im Kerker

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englisch: Christ in prison; französisch: Christ en prison; italienisch: Cristo in carcere.


Hans Martin von Erffa (1953)

RDK III, 687–692


RDK III, 687, Abb. 1. Nowgorod, 1152-54.
RDK III, 689, Abb. 2. Breitenwang (Tirol), um 1730.
RDK III, 689, Abb. 3. Breitenwang (Tirol), um 1730.

I. Mittelalter

Christus wurde nach dem Zeugnis der Synoptiker am Abend seiner Gefangennahme, nach dem Verhör im Hause des Kaiphas, geschlagen und verspottet. Die Evangelien sagen nichts über die nun folgende Nacht aus. Erst das Mittelalter hat sich in seinen Betrachtungen über die Passion auch der Ausmalung dieser Nacht vor der Verurteilung angenommen. Es läßt Christus in einem Kerker des gleichen Hauses eingesperrt werden und weitere Leiden erdulden.

An der Bronzetür von Nowgorod, gegossen um 1152–54 in einer Magdeburger Hütte, tritt zum ersten und, soviel wir sehen, einzigen Male im MA die bildliche Darstellung Christi im Kerker (Dominus in carcere, Christus in vinculis) auf (Abb. 1). Die Einfügung zwischen Gefangennahme und Geißelung sowie die Angabe des Ortes, die Fesselung an die Säule und das Einschließen in den Block lassen keinen Zweifel an der Deutung der Szene. Ein offensichtlich ganz der Legende angehörender Zug ist die Beigabe eines Engels. Ob der Künstler bei der Schilderung des ganzen, nicht kanonischen Ereignisses einer uns unbekannten älteren Quelle folgte oder frei schuf, muß vorläufig offenbleiben. Wir wissen aus Hugo Plagons „Citez de Jerusalem“ von 1187 (J. A. Messmer in Mitt. Z. K. 6, 1861, 218), daß die Vorstellung von Christi Kerkerhaft dem 12. Jh. jedenfalls nicht fremd war.

Der breite Strom mystischer Betrachtungen über die Leiden Christi in der letzten Nacht setzt um 1300 mit Johannes de Caulibus ein. Im 70. Kap. seiner Meditationes vitae Christi berichtet er [3]: „Dann zogen sich die Ältesten zurück und ließen ihn in einen Kerker bringen, der unter der Erde lag, und dessen Reste heute noch sichtbar sind. Dort wurde er an eine Steinsäule gebunden, von der heute noch ein Stumpf steht, wie ich von einem Mitbruder erfuhr, der ihn sah. Trotzdem ließ man zur größeren Sicherheit einige Bewaffnete zurück, welche ihn die ganze Nacht noch vollends mit Spottreden und Verwünschungen quälten. ... So beschimpften sie ihn, bald der eine, bald der andere, die ganze Nacht durch Worte und Taten ... So stand er aufrecht an die Säule gebunden bis am Morgen“; die Nachricht von dem noch vorhandenen Kerker scheint sich lange erhalten zu haben, denn noch Christian von Adrichem (1513–85) berichtet darüber in seiner Beschreibung Jerusalems zu Zeiten Christi und sagt, die Kaiserin Helena habe über dieser Stätte eine Kirche errichtet (Chr. Adrichomius, Urbis Hierosolymae, quem admodum ea Christi tempore floruit, Köln 1597, S. 15f.; [1] Anm. 19 u. S. 323).

Weitere Ausschmückung der Kerkerszene bringt dann, in Anlehnung an Johannes de Caulibus, Ludolf von Sachsen († 1377) in der Vita Christi, die vor allem die Stelle Klag. Jerem. 3, 30 auf die Kerkerhaft bezog.

Wahrscheinlich drang die Vorstellung dann durch die Passionsspiele in das Bewußtsein der breiteren Menge: Christus soll die Nacht über wach gehalten werden, um Pilatus am Morgen in geschwächtem Zustand gegenüberzutreten. Die Literatur nimmt sich dann weiterhin mehr der Ausmalung des „Geheimen Leidens Christi“ an, welches der Christenheit erst am Jüngsten Tag offenbart werden darf. Es erfuhr vor allem durch die Freiburger Nonne Magdalena von Kenzingen († 1458) weitere Bereicherungen. Magdalenas niederdeutscher Zeitgenosse Johannes Brugmann († 1473) berichtet in seiner „Devote oefeninge“ usw. über das Leben Christi Ähnliches. Von Ludolf von Sachsen wiederum abhängig zeigt sich der Kartäuser J.J. Landsberg († 1539) in seinen „Meditationen“ wie in den „Paraphrasen und Exegesen“, und nach ihm Adam Walasser († 1581) u. a.

So ist die Vorstellung von der Kerkerhaft Christi schon im späteren MA recht verbreitet gewesen; sie ist dabei eng mit der Betrachtung des Geheimen Leidens verknüpft. Die bildliche Darstellung setzt indes – mit der genannten Ausnahme – erst in nach-m.a. Zeit ein.

II. Neuzeit

Zum Andachtsbild wurde C. i. K. erst um die Wende des 17. zum 18. Jh. Die literarische Überlieferung war ungehindert weitergeflossen, führte aber jetzt zu einem überraschenden Aufleben, das zunächst auf das „Große Leben Christi“ des Kapuziners Martin von Kochem (1634–1712), vor allem aber auf das Wirken der Franziskanerin Kreszentia Höß von Kaufbeuren (1682–1744) zurückzuführen ist. Diese erneuerte die Andacht zum gefesselten Heiland im Kerker (Ignatius Jeiler O.F.M., Leben der Maria Crescentia Höß von Kaufbeuren, Dülmen 18863).

Die Andacht ist noch heute im Kirchenlied lebendig („In dem Kerker muß er schmachten / so verlassen, ganz allein / Schaut in Kerker nur hinein, was mein Jesus leidt für Pein“; schlesisch). Diese Andacht hat, zumindest für Süddeutschland und weite Teile Österreichs, die Andacht zum Christus im Elend abgelöst. Daß sie auch durch das kleine Andachtsbild weiter verbreitet wurde, zeigen einige Beispiele (G. Gugitz, Das kl. Andachtsbild in den österreichischen Gnadenstätten, Wien 1950, S. 130).

Der verbreitetste Andachtsbildtypus zeigt ein Standbild Christi in einer Nische, Grotte oder Kapelle, die vorn mit einem Gitter geschlossen ist. Haltung und Attribute Christi sind nicht einheitlich. Der Szene können, außerhalb des Gitters, Kriegsknechte als Bewachung des Kerkers, innerhalb Engel als Tröster beigegeben werden (Abb. 2).

Die Darstellung kann verschiedene Inhalte haben. Der der m.a. Vorstellung am nächsten stehende ist zweifellos das Geheime Leiden Christi, wie es sich in volkstümlichen Ausmalungen, etwa im Leiden auf dem Dreikant, im Christus mit der Zungenwunde u. dgl. äußert. Tritt C. i. K. in der Form des Christus im Elend auf, so könnte man auch an eine Szene vor der Vernehmung durch Kaiphas denken, für die es jedoch keine literarischen Parallelen gibt; andernfalls vermischt sich dann die Vorstellung von der Kerkerhaft mit der von der Rast unter dem Kreuz. Eine weitere Vermengung der Bildvorstellungen ist der C. i. K. mit der Schulterwunde, anachronistisch insofern, als die Schulterwunde doch ein Mal von der Kreuztragung ist. Christus kann ferner die Merkmale der Geißelung tragen, wenn auch zu beachten ist, daß die halbhohe, meist balusterartig gebildete Säule, an die C. i. K. gekettet ist, ursprünglich nicht mit der Geißelsäule identisch war; diese stand im Richthaus. Die bei den m.a. Mystikern noch vorhandene chronologische Ordnung verliert sich also im barocken Andachtsbild.

Die wichtigsten Typen dieses über ganz Südbayern, Südwürttemberg und Vorderösterreich verbreiteten, aber auch in Schlesien bekannten Andachtsbildes sind der stehende bekleidete und der kniende unbekleidete Christus.

Als Beispiel für den letzteren sei zunächst aus dem Gebiet der Kleinplastik ein Holzrelief Georg Petels genannt (13 cm h.; Berlin, ehem. Staatl. Museen J 8471, jetzt Wiesbaden): Christus kniet gefesselt am Boden eines engen, durch Quaderung und eine Spinne als Kerker gekennzeichneten Raumes, in dessen Hintergrund die halbhohe Säule steht; er trägt Dornenkrone und Purpurmantel. Die gleiche Darstellung, ins Monumentale übertragen, zeigt ein Nebenaltar im Zisterzienser-Nonnenkloster Heiligkreuztal, der 1726 von Joh. Bapt. Hops geschaffen wurde. Hier ist das Andachtsbild szenisch erweitert: vor der vergitterten Nische, über der Gottvater, umgeben von den Leidenswerkzeugen, in der Glorie schwebt, knien die trauernden Gestalten von Petrus, Maria, Magdalena und Johannes Ev. (Oberrhein. Kunst 8, 1939, S. 141 Abb. 19). Auch in der ehem. Franziskanerkirche in Saulgau findet sich ein lebensgroßer, kniender C. i. K., aus 1. H. 18. Jh. (Inv. Württ. Donaukr. OA. Saulgau S. 20).

Für den stehenden bekleideten Typus seien als Beispiele genannt das Standbild in St. Georg in Riedlingen (Ebd. OA. Riedlingen S. 22): langbekleideter, gefesselter Christus in holzeingefaßter, vergitterter Kerkernische, 2. H. 17. Jh., und der als „Blauer Herrgott“ bezeichnete Christus mit der Kette um den Hals in Kirchschlag Bez. Pöggstall (Inv. Österr. IV S. 51 Abb. 59), Kopie einer Madrider Statue von 1682, die dem Kloster der Weißspanier in Wien geschenkt wurde. Einen eigenen Raum als C. i. K.-Kapelle ausgestattet hat man in der Pfarrkirche Breitenwang b. Reutte (Abb. 2 und 3): an der W-Wand des Turmerdgeschosses steht in einer vergitterten Nische der mit langem Gewand bekleidete, überlebensgroße Christus an die niedere Säule gekettet. Vor dem Gitter zu beiden Seiten je ein bewaffneter Wächter in phantastischer Tracht; um die gemauerte Nische gemalt der Hügel Golgatha, rechts das Kreuz und grabende Männer, links hinten Jerusalem. Im Deckenfresko Engel mit Leidenswerkzeugen (Hinweis auf Spr. Sal. 5, 22), in der Mitte Gottvater.

Für den Christus mit der Schulterwunde genügt der Hinweis auf die Darstellungen in Vilgertshofen (um 1720) und in der Gnadenkapelle in Hohenpeißenberg (1. H. 18. Jh.; vgl. auch M. Hartig in Volk und Volkskunde 2, 1937, 315f.).

Die Verbindung des C. i. K. mit der Vorstellung des Christus im Elend zeigt das Epitaph des Ignaz v. Pfürdt († 1726) im Eichstätter Domkreuzgang (Inv. Bayern V, 1, Abb. 171); in der Ruhe-Christi-Kapelle bei Buchau a. Fed. sitzt der Christus im Elend in einer vergitterten Nische als C. i. K., ein Motiv, das sich auch sonst findet, wobei aber oft die Vergitterung nicht ursprünglich ist.

Der Kerker kann als Grotte gebildet sein, wie sie der Barock liebte (Forstenried bei München). Die Kerkernische ist häufig an der Ostwand zu seiten des Chors (Vilgertshofen; Liggersdorf, Hohenzoll.) oder unter der Empore (Dachau; Rosenheim, St. Nikolaus), in der Vorhalle (Obermarchtal); sie kann ferner am Äußeren der Kirche angebracht sein (Paar bei Augsburg). Einige ältere Quellen berichten auch von selbständigen Kapellen auf dem Gottesacker: „Christus in vinculis in coemeterio“ 1745 in Sigmaringen; „Kerkergotteshäuschen“ auf dem Kirchhof der Pfarrkirche in Ziemetshausen (Kirchenführer 209/10 S. 3; 244/45 S. 8).

Auf mögliche Verbindung des Motivs mit der vereinzelten Darstellung des Hiob im Kerker kann hier nur hingewiesen werden (Mitt. G. v. d. Osten).

Die Bezeichnung des C. i. K. als Herrgottsruhbild (Konrad Bauer in Magazin für Pädagogik, Juli 1937) ist irreführend.

Zu den Abbildungen

1. Nowgorod, Relief von der Erztür der Kathedrale. Magdeburger Gießhütte, 1152–54. Nach Ad. Goldschmidt, Die Bronzetüren von Nowgorod und Gnesen, Marburg 1932, Taf. 48.

2. Breitenwang bei Reutte, Tirol, Pfarrkirche, Christus-im-Kerker-Kapelle im Turmerdgeschoß. Um 1730. Phot. Landeskonservator für Tirol, Innsbruck.

3. (wie 2) Christusfigur bei geöffnetem Gitter (Figuren etwas über lebensgroß). Phot. Landeskonservator für Tirol, Innsbruck.

Literatur

Monographische Behandlung des Gegenstandes steht noch aus; zu den Quellen vgl. 1. Friedr. Zoepfl, Das unbekannte Leiden Christi in der Frömmigkeit und Kunst des Volkes, in: Volk und Volkstum, Jb. f. Volkskde. 2, 1937, 317 bis 36. – 2. Buchberger. – 3. Des Bruders Johannes de Caulibus Betrachtungen vom Leben Jesu Christi, verdeutscht von P. Vincenz Rock O.F.M., II. Teil (= Franziskanische Lebenswerte 2. Reihe Bd. 2), Berlin 1928, S. 320f.

Verweise