Dreistrahlgewölbe

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englisch: Tierceron vault; französisch: Voûte à triple rayon; italienisch: Volta triangolare.


Ernst Gall (1955)

RDK IV, 545–551


RDK IV, 545, Abb. 1.-3. Schema verschiedener Wölbsysteme.
RDK IV, 545, [Links] Abb. 4. Nürnberg, St. Sebald, 1361-79.

[Rechts] Abb. 5. Brandenburg, Katharinenkirche, beg. 1401.

RDK IV, 547, Abb. 6. Heilsberg (Ostpreußen), um 1350.
RDK IV, 547, Abb. 7. Regensburg, Dominikanerkloster, um 1424.
RDK IV, 549, Abb. 8. Eberbach (Rheingau), Kapitelsaal, um 1345.
RDK IV, 549, Abb. 9. Lübeck, Briefkapelle, um 1310.
RDK IV, 549, Abb. 10. Thann (Elsaß), 1468ff.

I. Begriff

Als D. bezeichnet man gotische Rippengewölbe, deren Formen auf der Verwendung des Dreistrahls beruhen. Rippendreistrahl heißt ein aus drei Rippen zusammengesetztes Rippensystem, das ein Gewölbe oder Gewölbekappen über dreieckigem Grundriß gliedert, wobei entweder die Rippen ihre Kämpfer in den Ecken des Dreiecks haben und sich im Schlußstein vereinen oder nur zwei Rippen von Kämpfern aufzeigen, während die dritte von ihrem Vereinigungspunkt bis zum Schlußstein des Gewölbes aufsteigt (Abb. 1 und 2). Nicht zu verwechseln ist der Rippendreistrahl mit den Flechtrippen, die von den Gewölbekämpfern zu einer vom Gewölbeschlußstein bis zur Schildbogenspitze durchlaufenden Scheitelrippe ansteigen (Abb. 3).

II. Formarten

a) Die einfachste Form des D. findet sich in Chorumgängen, deren Joche abwechselnd rechteckige und dreieckige Gewölbefelder haben. Während die rechteckigen Joche mit einfachen Kreuzrippengewölben gedeckt sind, zeigen die dreieckigen Joche D., bei denen zwei Rippen von den Kämpfern über den Ecken der Grundlinie des Dreieckfeldes, die dem äußeren Rand des Umgangs entspricht, aufsteigen, während die dritte Rippe über einer Stütze der Apside an der Spitze des dreieckigen Joches ansetzt (Abb. 4).

Beispiele bieten die Kathedralen von Le Mans (1217–54) und Toledo (1227–90), die Kirchen St. Sebald in Nürnberg (1361–79), in Caudebec-en-Caux (Seine-Inférieure, 1426), Notre-Dame in Cléry (Loiret, um 1440), St. Martin in Argentan (15. Jh.), St. Gotthard in Brandenburg (1456ff.), St. Nikolai in Berlin (1461ff.), St. Stephan in Tangermünde (1470). Gewölbe ähnlicher Dreiteilung, aber ohne Rippen, finden sich schon im Erdgeschoßumgang der Aachener Pfalzkapelle (um 800) sowie im Chorumgang von St.-Martin-des-Champs in Paris (1150 bis 1160).

b) Eine Reihe nebeneinander angeordneter dreieckiger Gewölbefelder verschiedener Größe mit D. zeigen andere Chorumgänge (Abb. 5).

Beispiele: Zisterzienserklosterkirche in Kaisheim (1352ff.), Stadtkirche in Kolin (1360ff.), Liebfrauenkirche in Worms (1381ff.), Marienkirche in Stargard (A. 15. Jh.), Katharinenkirche in Brandenburg (1401ff.), Marienkirche in Königsberg i. d. Neumark (1407 gew.), Marienkirche in Frankfurt a. d. O. (15. Jh.), Johanneskirche in Stargard (15. Jh.), Stiftskirche in Moulins (Allier, 1468ff.), Georgskirche in Dinkelsbühl (1492).

c) Kleine D. füllen die Ecken des rechteckigen Chorschlusses der Kapelle im Deutschordensschloß Lochstedt (gegen 1300).

d) Auch in Seitenschiffen oder den ihnen angegliederten Kapellen kommen D. vor, indem die rechteckigen Joche in mehrere entsprechende Gewölbefelder unterteilt wurden; bei wechselnder Lage der Schlußsteine in unmittelbar benachbarten Dreiecksfeldern werden sie auch als Springgewölbe bezeichnet (Abb. 6).

Beispiele: Jakobskirche in Thorn (1309ff.), Hl. Kreuzkirche in Breslau (1. H. 14. Jh.), ehem. Domkirche in Kulmsee (um 1350), Dom zu Marienwerder (1344–55). Ähnlich sind auch Kreuzgänge mit D. ausgestattet wie z. B. im oberen Laubengang des Bischofsschlosses zu Heilsberg (um 1350), bei St. Marien in Elbing (2. H. 14. Jh.) und im Regensburger Dominikanerkloster (um 1424; Abb. 7).

e) Während die D. der Chorumgänge verhältnismäßig schlichte Bildungen im Anschluß an den polygonalen Grundriß der Umgänge sind, führte die Unterteilung der dreieckigen Kappen des rechteckigen Kreuzrippengewölbes durch Einführung des Rippendreistrahls zur Ausbildung der Sterngewölbe. Das älteste Beispiel bietet das Langhaus der Kathedrale von Lincoln (1209 bis 1233). Ferner wurde das D. Grundlage der von einer Mittelstütze getragenen Sterngewölbe im Chorschluß nach der Art der Dominikanerkirche in Toulouse (1292 gew.) oder in zentralen Räumen wie den Kapitelsälen der Kathedrale von Salisbury (um 1280), der Zisterzienserklöster in Maulbronn (um 1300) und Eberbach (um 1345, Abb. 8) sowie in dem Komtursremter des Deutschordensschlosses Lochstedt (1285–1300); ebenso bei zweischiffigen Saalräumen, für die der Kapitelsaal im Deutschordensschloß Marienburg (um 1309) oder die Briefkapelle der Lübecker Marienkirche (um 1310, Abb. 9) die frühesten deutschen Beispiele bieten.

f) In der Spätgotik wurden auch rechteckige Gewölbefelder an ihrer Schmalseite durch Rippendreistrahle unterteilt, deren Mittelrippen aber im Scheitel des Gewölbes zu einer Rippe vereint und zu deren Schlußstein von den Gurtbogen her noch beiderseits Flechtrippen zugeführt wurden, wie z. B. im Querhaus der Kathedrale von Antwerpen (um 1350) und im Langhaus der Stiftskirche St. Theobald zu Thann im Elsaß (1468ff., Abb. 10), so daß eine Art Netzgewölbe entstand.

III. Konstruktive und stilistische Voraussetzungen

Der technisch konstruktive Sinn der D. beruht auf der Unterteilung der Gewölbeflächen in kleine Kappen, die sich über die Rippen ohne vollständige Unterschalung nur mit Hilfe eines Lehrbogens oder sogar freihändig wölben ließen. Dies erwies sich als besonders vorteilhaft, da dann kleine leichte Steine verwendet werden konnten, wodurch die Gesamtmasse des Gewölbes und die Gewalt seines Seitenschubes bedeutend verringert wurde. Daher fanden die D. schon frühzeitig in den Backsteinbauten Norddeutschlands und namentlich des Deutschordenslandes Verwendung, wenn auch die ältesten D. größeren Umfanges in der Form der Sterngewölbe, wie auch Villard de Honnecourt (um 1235) ein solches im Grundriß entworfen hatte, vor allem in England nachweisbar sind, wo sie nicht nur aus konstruktiven Gründen entstanden, sondern aus der auch sonst in der englischen Gotik nachweisbaren Eigenart, ursprünglich tektonisch-strukturelle Formen im dekorativen Sinne reich umzugestalten. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß die Anwendung der D. in Form der Sterngewölbe in Saalräumen mit einer oder mehreren Mittelstützen dem gotischen Raumgefühl besonders gerecht wurde, denn jeder irgendwie repräsentative Saalraum ist in der Gotik mit Mittelstützen versehen, die dem Raum das dynamisch aufdrehende Leben geben; dieses kommt am besten zur vollen Geltung, wenn die Rippen der Gewölbe in zahlreichen Kraftstrahlen den stützenden Pfeilern gleich den Ästen eines Baumes oder wie die Strahlen einer Fontäne entsprießen.

Zu den Abbildungen

1.–3. Schema verschiedener Wölbsysteme. Zchg. des Verf.

4. Nürnberg, St. Sebald, Grundriß des Chorumgangs. 1361–79. Zchg. des Verf.

5. Brandenburg, Katharinenkirche, Grundriß des Chores. Beg. 1401. Nach Inv. Prov. Brandenburg II, 3, S. 49 Abb. 29.

6. Heilsberg (Ostpreußen), Bischöfl. Burg, Grundriß des oberen Laubengangs. Um 1350. Zchg. des Verf.

7. Regensburg, Dominikanerkloster, Südflügel des Kreuzgangs. Um 1424. Fot. Bayer. L.A. f. Dpfl., München.

8. Eberbach (Rheingau), ehem. Zisterzienserabtei, Kapitelsaal. Um 1345. Fot. Cramers Kunstanstalt, Dortmund.

9. Lübeck, Marienkirche, Grundriß der Briefkapelle. Um 1310. Zchg. des Verf.

10. Thann (Elsaß), ehem. Stiftskirche St. Theobald, Gewölbesystem des Langhauses. 1468ff. Zchg. des Verf.

Literatur

1. Gg. Ungewitter und K. Mohrmann, Lehrbuch der gotischen Konstruktionen, Leipzig 18903. – 2. Bernh. Schmid, Die Remtergewölbe in der Marienburg, Elbinger Jb. H. 14, 1937, 111 bis 118. – 3. Karl Heinz Clasen, Deutschlands Anteil am Gewölbebau der Spätgotik, Zs. d. Dt. Ver. f. Kw. 4, 1937, 163–85 (z. T. völlig verfehlte Thesen).

Verweise