Eierstab

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englisch: Egg and dart; französisch: Oves; italienisch: Ovoli.


Wilhelm Rave (1956)

RDK IV, 939–944


RDK III, 1237, Abb. 3. Peter Flötner (?), 1532, Nürnberg.
RDK IV, 939, Abb. 1. Formen des Eierstabes vom 6. Jh. v. Chr. bis 19. Jh. n. Chr.
RDK IV, 941, Abb. 2. Lund (Schweden), 1145 (?).
RDK IV, 941, Abb. 3. Rüeggisberg (Kt. Bern), um 1175.
RDK IV, 943, Abb. 4. Dresden, 1550.

I. Begriff

E. ist die herkömmliche Bezeichnung für ein konvexes, plastisch bearbeitetes Zierglied, auf dem rhythmisch gereihte, eiförmige Gebilde durch Zwischenglieder verbunden sind.

II. Antike

Der E. entstand aus dem ionischen Kyma des 6. Jh. v. Chr., einem Blattstab, dessen rundliche rippenlose Blätter mit einem Wulst umrandet sind und dicht nebeneinander herabhängen; in den untern Zwickeln erscheinen kurze, derbe Dornen (Abb. 1 a). In der klassischen Zeit näherten sich die Blätter buckligen, länglichen Schilden; zwischen ihren kantigen, sich nach unten verjüngenden Umrandungen stoßen gratige Lanzettblätter von oben her durch (Abb. 1 b). Bis zum 4. Jh. hat der Buckelschild immer mehr die Form eines oben gestutzten Eies angenommen und sich von den Rändern oder „Schalen“ gelöst; zwischen ihnen ist das Lanzettblatt oft zu einer dünnen Rippe zurückgebildet (Abb. 1 c). Der E. erscheint in der ionischen und korinthischen Ordnung oft dreimal am Gebälk: unter der Hängeplatte, unter dem Zahnschnitt und unter der Kehlleiste des Architravs, außerdem beim Säulen- und Antenkapitell. Die untere Begrenzung bildet meistens ein Perlstab. Bei den Römern erfuhr die Isolierung von Ei, Schale und Zwischenglied noch eine Steigerung, wobei die Schalen, deren Vorderflächen flach gehöhlt sind, tief hinterschnitten und die Lanzettblätter zu Pfeilen umgebildet wurden (Abb. 1 d). In der Spätzeit erschienen manche Abarten; häufig sind die Schalen durch Stege verbunden (Abb. 1 e).

III. Mittelalter

Die frühchristliche Kunst Ostroms, zu dessen Kulturbereich auch das Exarchat Ravenna gehörte, zeigte im 6. Jh. ein erstes Wiederaufkommen des E. (Rud. Kautzsch, Kapitellstudien, Bln. u. Lpz. 1936).

In der 2. Hälfte 7. Jh. wurde das Motiv des E. bei einigen kompositen Kapitellen in Frankreich wieder aufgenommen: Jouarre (um 680), St. Sever, Selles-sur-Cher, St. Pierre de Montmartre, St. Brice de Chartres (Denise Fossard, Les chapiteaux de marbre du VIIe siècle en Gaule. Style et évolution, Cahiers arch. 2, 1947, 69-85).

Eine verderbte antike Form des E. trat in der 1. H. 8. Jh. auch in der Lombardei auf, z. B. um 730 am Ziborium von S. Giorgio in Valpolicella (A. Kingsley Porter, Lombard Archit. Bd. 1, New Haven 1915, S. 204; Taf. 198,4).

Das erste Vorkommen des E. in Deutschland ist um 774 bei den antikisierenden Kompositkapitellen der Lorscher Vorhalle nachzuweisen (RDK I 265, Abb. 7). Die ungefüge Nachbildung spätrömischer Originale zeigt runde Scheiben, die von dünnen Wülsten eingerahmt sind (Abb. 1f.). Ähnlich ist der E. auf den karolingischen Kapitellen der ehem. Stiftskirche in Zyfflich Krs. Kleve gebildet (Jb. d. rhein. Dpfl. 20, 1956, S. 144f., Abb. 49f.). Weitere Belege aus der karolingischen Baukunst fehlen, doch findet sich der E. auf Elfenbeinreliefs des 8./9. Jh., in denen spätantikes Formengut fortlebt (z. B. Buchdeckel in Oxford: Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen 1, Nr. 5).

Zwei ottonische Kapitelle in der Stiftskirche zu Quedlinburg, leider nicht genauer datiert, scheinen in ihrer Zeit vereinzelt zu stehen (Ad. Zeller, Die Kirchenbauten Heinrichs I. u. d. Ottonen usw., Bln. 1916, Taf. 15 Abb. 5f.); sie zeigen einen roh kerbschnittartig gearbeiteten E. in Verbindung mit ionischen Voluten. Um M. 11. Jh. findet sich dann der E. als Randverzierung in der Buchmalerei (Hieronymusblatt in einem Kölner Evangeliar: Köln, Priesterseminar, fol. 8; Heinr. Ehl, Die otton. Kölner Buchmalerei, Bonn u. Lpz. 1922, Abb. 63).

Eine zweite, sehr viel folgenreichere Welle der Wiederaufnahme antiken Formengutes um das Jahr 1100 hatte in Apulien, Toskana und besonders Südfrankreich ihren Ursprung.

Beispiele: Martin Wackernagel, Die Plastik des 11. u. 12. Jh. in Apulien, Lpz. 1911, Taf. 24. – Corr. Ricci, Roman. Bauk. in Italien, Stg. 1925, S. 90, 191, 240. – Jul. Baum, Roman. Bauk. in Frankreich, Stg. 1910, S. 120, 124, 183, 211. – Rich. Hamann, Dt. u. franz. Kunst im MA, Marburg 19232, Abb. 4, 5, 7. – Ders., Die Abteikirche von St. Gilles u. i. künstlerische Nachfolge, Bln. 1955, Bd. I, Abb. 92, 120, 182, 187, 195f.; Bd. II, Taf. 2–5, 37, 70, 84, 135, 149, 192. – Ebd. Bd. I, Abb. 456 (Thron in Beaucaire). – [1] S. 199 Abb. 91.

Neben den verschiedenartigen, schlichteren Wiederholungen des E. in St. Gilles und St. Gabriel zeigt St. Trophîme in Arles (R. Hamann a. a. O. 1955, Bd. I, Abb. 228) einen Zwitter von ionischem und lesbischem Kyma (Abb. 1 k).

In diese Zeit gehören auch die seltenen Vorkommen des E. im deutschen 12. Jh.: am Dom zu Speyer ([2]; Inv. Bayern, Pfalz 3, Abb. 56, 105, 129, 163, 165; Städel-Jb. 1, 1921, S. 89 Abb. 8; Oberrhein. K. 10, 1942, S. 22 Abb. 17), und zwar in drei verschiedenen Varianten: am Nord- und Südarm des Querhauses runde Scheiben mit hinterarbeiteten Zwischenbrücken (Abb. 1 g), am Chorgesims ähnlich mit schweren Pfeilen (Abb. 1 h) und am Fenster der Königsgruft mit durchlöcherten Bändern (Abb. 1 i). An die letztere Form schließt sich der E. im Dom zu Lund an (1145?; Abb. 2). – In der Schweiz findet sich der E. in dieser Zeit nur in der burgundisch beeinflußten Kirche des Cluniazenserpriorats Rüeggisberg, vollendet 1175 (Abb. 3).

Bei der weiteren Rezeption der Antike wurde der E. durch Niccolò Pisano an der Kanzel in Siena um 1265, durch Arnolfo di Cambio an der Badia und S. Croce in Florenz, 3. Dr. 13. Jh., und durch Giovanni Pisano an der Kanzel in Pisa um 1305 verwendet (Walter Paatz, Werden und Wesen der Trecento-Architektur in Toskana, Burg 1937, Abb. 23, 62f., 112).

IV. Neuzeit

Dann brachte die eigentliche „Renaissance“ den E. für lange Zeit in Geltung. Nachdem Brunelleschi von etwa 1421 ab seine Bauten mit ihm geschmückt hatte, folgten darin die anderen Meister Oberitaliens und verbreiteten durch ihre Schriften seine Kenntnis im ganzen Abendland. Vasari berichtet in der Vita des Giovanni da Udine (Milanesi 6, S. 552), daß um 1500 E. mit Hilfe gebrannter Tonformen hergestellt wurden.

Frühe Beispiele in Deutschland sind die Sakristeitür im Breslauer Dom von 1517 (RDK I 170, Abb. 2), die ovale Buckel in rechteckigem Rahmen zeigt (Abb. 1 l), weiter der Apollobrunnen in Nürnberg von 1532 (RDK III 1237/38, Abb. 3) mit deutlicherem Rückgriff auf die Antike (Abb. 1 m), der Erker am Görlitzer Rathaus von 1537 [4, S. 51], die Kapitelle am Ottheinrichsbau in Heidelberg, die Gesimse am Dresdener Schloß von 1550 (Abb. 4) u. a. m. Von der Mitte des 16. Jh. bis an das Ende des 17. Jh. bildete dann der E. eine beliebte Zier an Gesimsen, Kapitellen (s. Sp. 700, Abb. 1 f), Gewänden, Umrahmungen, Kaminen, Grabmalen, an Holz- und Stuckdecken, Möbeln, Geräten usf. Beinahe jedes Beispiel zeigt eine neue Umformung. So wurde er sehr breit gezogen an einem Fachwerkhaus in Straßburg (Abb. 1 n), mit gratigen Schilden, kerbschnittartigen Pfeilen und stehend bei einem Steinepitaph im Dom zu Münster (Abb. 1 o) dort auch beim Christophorussockel mit tropfenartigen Eiern ohne Schalen und konsolartig liegend (Inv. Westfalen, Stadt Münster 5, S. 263 und 291).

In der Formenwelt des 18. Jh. fand der E. in Deutschland keinen Platz, bewahrte aber ein zähes Leben in den romanischen Ländern. Dort erfuhr er eine akademische Umformung zum zweischichtigen Blattstab, der gemeinhin als „klassisch“ bezeichnet wird, aber weder in Griechenland noch in Rom vorkommt (Abb. 1 p). In dieser, durch Kupferstiche und Lehrbücher verbreiteten Form erschien der E. um 1800 auch wieder in Deutschland und dauerte in erfindungsarmen Wiederholungen bis in die neuere Zeit fort.

Zu den Abbildungen

1. Formen des Eierstabes vom 6. Jh. v. Chr. bis 19. Jh. n. Chr. Zeichnung des Verf.

2. Lund (Schweden), Dom, Kapitell im nördlichen Seitenschiff. 1145 (?). Fot. Lunds Univ. Historiska Mus.

3. Rüeggisberg Kt. Bern, Gebälkfragment aus der ehem. Klosterkirche, um 1175. Fot. Martin Hesse, Bern.

4. Dresden, Schloß, Hauptgesims der Nordwestschnecke im Hof des Moritzbaues. Dat. 1550. Fot. Marburg.

Literatur

Keine Monographie.

Zu III: 1. Rich. Hamann-MacLean, Antikenstudium in der Kunst des MA, Marburger Jb. 15, 1949/50, 198–200. – 2. Edgar Lehmann, Die Bedeutung des antikischen Bauschmucks am Dom zu Speyer, Zs. f. Kw. 5, 1951, 1–16.

Zu IV: 3. Aug. Ortwein und Aug. Scheffers, Deutsche Renaissance, 8 Bde., Lpz. 1871–88. – 4. Paul Klopfer und Jul. Hoffmann, Baukunst und dekorative Skulptur der Renaissance in Deutschland, (= Bauformen-Bibl. I), Stg. 1909.