Endlicher und endloser Faden

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englisch: Thread with end, thread without end; französisch: Fil de longeur limité, fil sans fin; italienisch: Filo continuo, filo spazzato.


Regina Flury – von Bültzingslöwen (1960)

RDK V, 323–326


RDK V, 323, Abb. 1. Arbeit mit endlichem Faden.
RDK V, 323, Abb. 2. Arbeit mit endlosem Faden.
RDK V, 325, Abb. 3. Veit Stoß, um 1480.
RDK V, 325, Abb. 4. Hamburg, um 1400, Werkstatt Meister Bertrams.

I. Begriffe

Endlicher und endloser Faden sind Sammelbegriffe für Textiltechniken der Gruppe der Einfadensysteme, d. h. der Verfahren zur Herstellung von Stoffen mittels eines einzigen Fadens. Sie stehen im Gegensatz zu stoffbildenden Verfahren der Mehrfadensysteme, bei denen zwei oder mehrere Fäden benutzt werden (z. B. Bildwirkerei, Weberei, Flechten).

II. Endlicher Faden

Verfahren zur Stoffbildung mit endlichem Faden, auch primäre textile Techniken genannt, sind Einhängen, Verknoten, Verschlingen (Abb. 1), Språng, Vantsöm und deren Abwandlungen. Bei ihnen werden ungeknotete bzw. geknotete Schlaufen oder Schlingen gebildet, indem ein Ende eines begrenzt langen Fadens vorangeführt, der restliche Faden stets ganz nachgezogen wird. Zu diesem Zweck muß das vorangeführte Fadenende entweder versteift oder durch eine Nadel gezogen, in ein gespaltenes Hölzchen geklemmt, der Faden auf einen Stab oder, sobald die Weite der Schlaufen bzw. Schlingen dies zuläßt, auf eine Filetnadel gewickelt werden. Da der Faden nur relativ lang sein kann, muß er nach gewisser Zeit angeknotet, angedrillt oder anderweitig angesetzt werden. Bei Bildung von Netzstoffen mit endlichem Faden hängt sich Schlaufe in Schlaufe bzw. Schlinge in Schlinge, und die Arbeit schreitet von oben nach unten fort.

Von Hand ausgeübte Techniken mit endlichem Faden sind bei allen primitiven Völkern noch sehr verbreitet, während sie in zivilisierten Ländern zur Verfertigung von Kleidungsstücken schon im MA den Handfertigkeiten mit endlosem Faden weitgehend gewichen sind. Sie werden heute nur noch für einfache Nutzgegenstände angewendet. Die Handfertigkeiten mit endlosem Faden wurden in der Neuzeit nach und nach durch die mechanische Herstellung aller Arten von Stoffen verdrängt.

Auf einem Kupferstich des Veit Stoß mit Darstellung der Heiligen Familie (Abb. 3) beendet Maria eben ein Hemd für das Jesuskind. Sie arbeitet von oben nach unten (vgl. Joh. 19,23: „Der Rock aber war ungenäht, von obenan gewirkt durch und durch“). Maria hält in der Rechten einen Stab, auf den der endliche Faden gewickelt ist, mit der Linken spannt sie den Stoff, um eine neue Schlingenreihe an die vorige anhängen zu können. Im Gefäß am Boden liegen zwei Fadenknäuel.

III. Endloser Faden

Es gibt nur zwei bekannte Techniken mit endlosem Faden: Häkeln und Stricken (Abb. 2). Bei beiden wird die neue Masche aus dem der letzten vorangehenden Masche zunächstfolgenden Fadenstück gebildet. Dieses zieht man mit Hilfe einer Hakennadel oder einer glatten Nadel in Form einer kleinen Fadenkurve durch eine oder mehrere Maschen der vorigen Arbeitsreihe. Da zur Maschenbildung nur ein relativ kurzes Fadenteil durch eine frühere Masche hervorgezogen wird, ohne daß der ganze Arbeitsfaden nachfolgen muß, kann man zum Häkeln und Stricken einen beliebig langen, theoretisch endlosen Faden benutzen. Bei diesen Verfahren schlüpft stets Masche aus Masche hervor, die Arbeit wächst von unten nach oben.

Die Besonderheit der Techniken mit endlosem Faden, daß stets beide Fadenarme aus derselben Öffnung hervorkommen, ermöglicht das Auflösen der Stoffe durch rückläufiges Aufziehen.

Textiltechniken mit endlosem Faden sind in allen Ländern europäischer Zivilisation und solchen, die durch Kolonisation und Mission damit in Berührung gekommen sind, bekannt.

Auf dem Bild mit dem Besuch der Engel bei Maria und dem Christusknaben im Buxtehuder Altar der Hamburger Kunsthalle (Abb. 4) beendet Maria am Halsausschnitt das Hemd für das Jesuskind. An den vier Nadeln sowie an den von zwei Knäueln – links im Körbchen – herlaufenden Fäden ist deutlich die Strickerei zu erkennen.

Zu den Abbildungen

1. Arbeit mit endlichem Faden (Sanduhr- oder Achterverschlingung). Zeichnung der Verf.

2. Arbeit mit endlosem Faden (Stricken). Zeichnung der Verf.

3. Veit Stoß, Heilige Familie, Ausschnitt (vgl. Engelbert Baumeister, Veit Stoß. Nachbildungen seiner Kupferstiche, Bln. 1913, Taf. 7). Kupferstich (P. 4), leicht vergrößert. Um 1480. Fot. St. Graph. Slg., München.

4. Hamburg, Kunsthalle, Tafelbild des Besuchs der Engel aus dem Buxtehuder Altar, Ausschnitt (vgl. Alfr. Lichtwark, Meister Bertram, Hamburg 1905, Abb. S. 375). Hamburg, Werkstatt des Meisters Bertram, um 1400. Fot. Mus.

Literatur

1. Kristin und Alfred Bühler-Oppenheim, Die Textiliensammlung Fritz Iklé-Huber im Mus. für Völkerkunde und Schweizer. Mus. für Volkskunde Basel, Zürich 1948. – 2. J. Lehmann, Systematik und geographische Verbreitung der Geflechtsarten, Abh. u. Ber. des Kgl. Zoolog. u. Anthropolog.-Ethnograph. Mus. zu Dresden 11, 1907, Nr. 3. – 3. E. Siewertsz van Reesema, Contribution to the Early History of Textile Technics, Verh. der Kgl. Ak. van Wetenschappen, Amsterdam 1926. – 4. R. d’Harcourt, Les textiles anciens du Pérou et leurs techniques, Paris 1934, S. 87. – 5. Fritz Iklé, Primäre textile Techniken (= Wegleitungen des K.G.M. Zürich Nr. 128), Zürich 1935. – 6. Kristin Bühler-Oppenheim, Primäre textile Techniken, Ciba-Rundschau Nr. 73, Okt. 1947. – 7. R. v. Bültzingslöwen und Edgar Lehmann, Nichtgewebte Textilien vor 1400, in: Wirkerei- und Strickerei-Technik (Coburg), Mai 1954 – Febr. 1956.

Verweise