Erichthon(ius)

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englisch: Erichthonius; französisch: Erichthonius; italienisch: Erittonio.


Wolfgang Stechow (I, II) und Karl-August Wirth (III) (1965)

RDK V, 1241–1247


RDK V, 1241, Abb. 1. Paris, 1. H. 14. Jh.
RDK V, 1243, Abb. 2. Hieronymus Greff (?), 1502.
RDK V, 1245, Abb. 3. Peter Paul Rubens, um 1632-35, Oberlin, Ohio.
RDK V, 1247, Abb. 4. Samuel Hoffmann, 1645, Frankfurt a. M.

I. Quelle

„Der attische E. ist die sekundäre Nebenfigur zu Erechtheus“ [1]. Die Frühgeschichte der Sage von dem nach vergeblicher Verfolgung Athenas erdgeborenen Sohn des Hephaistos und späteren Herrscher von Athen liegt in tiefem Dunkel; indische Parallelen sind angeführt worden [4]. Hier ist hauptsächlich eine Episode aus der Sage von Interesse, die schon von Euripides (Ion 20ff. und 265ff. mit Hinweis auf bildliche Darstellungen!) erwähnt, dann von Antigonos von Karystos (Hist. mirab. 12), später von Ovid (Metam. II, 552ff. u. 748f.) und Hygin (Fab. 166; Poet. astr. II, 13) mit geringen Abweichungen formuliert worden ist und auch dem Mittelalter, der Renaissance und dem Barock bekannt war:

Athena verbirgt das von einer oder zwei Schlangen bewachte, schlangengestaltige oder schlangenfüßige Kind E. in einem Korb und übergibt diesen den drei Töchtern des Kekrops, Aglauros, Pandrosos und Herse, mit der strengsten Weisung, den Korb nicht zu öffnen. Von Neugierde übermannt, übertritt Aglauros das Verbot und entdeckt das kleine Ungeheuer. Die Krähe, die den Vorgang beobachtet hat, berichtet ihn Athena und wird von ihr verstoßen (s. a. Coronis, RDK III 862). Die Töchter des Kekrops werden von der Schlange getötet oder werden wahnsinnig und stürzen sich von der Akropolis oder ins Meer.

II. Darstellungen

In der antiken Kunst wird die Übergabe des soeben geborenen E. durch Gäa an Athene seit dem 5. Jh. v. Chr. öfters dargestellt; die Szene mit dem Öffnen des Korbes ist seltener. E. wird fast immer in rein menschlicher Gestalt wiedergegeben [1; 2; 3].

Aus dem Mittelalter ist nur die Übergabe des Wickelkindes E. an die Kekropstöchter durch die gekrönte Athena bekannt (Ovide moralisé, Paris, Arsenal 5069, fol. 19, 1. H. 14. Jh.; Abb. 1); der weitläufig allegorisierende Text (ed. C. de Boer, Verhandelingen der Koninklijke Akad. van Wetenschappen, Af d. Letterkunde, Nieuwe Reeks 15, Amsterdam 1915, S. 217ff., v. 2121ff.) betont den göttlichen Adel der Athena und die Rolle der Kekropiden als Hofdamen.

Der Renaissance gehört Sebastiano del Piombos Farnesina-Fresko (1511–13) an, in dem zwei Kekropiden beim Öffnen des Korbes erscheinen und ein starker Akzent auf der Botschaft der Krähe liegt (Luitp. Dußler, S. d. P., Basel 1942, Abb. 15). Das Fresko aus Raffaels Schule im Badezimmer des Kardinals Bibbiena im Vatikan, 1516 (gestochen von Santi Bartolo), zeigt die „Zudringlichkeit des Vulkans gegen Minerven“ (Goethe an Schiller, 25. Okt. 1797; Werke IV, 12, S. 347). – Manieristische Gruppen mit der Entdeckung des E. im Korbe finden sich bei Anthonie Blocklandt (zwei identische Fassungen einer Zeichnung, in Chikago und im B.M. London: Kat. A. E. Popham Bd. 5, 1932, S. 172 u. Taf. 64; nach Ingrid Jost, Stud. zu A.B., Diss. Köln 1960, S. 153f. [masch.], wäre die Londoner Zchg. eine Kopie der in Chicago befindlichen), in der Buchillustration (Bernard Salomon, Virgil Solis) und in Illustrationsfolgen von Antonio Tempesta und Hendrick Goltzius (gestochen von anderer Hand). In der Buchillustration des 17. Jh. geben Le Pautre und Le Clerc den Ton an [6].

Die entscheidenden Formulierungen der Sage in der barocken Malerei werden Rubens verdankt [7; 8]. In einem Bild von ca. 1616 in der Liechtenstein-Gal. in Vaduz (Kat. Wien 1931, Nr. 111; [8] Abb. 9) erscheint zum erstenmal die in der Literatur nicht erwähnte Figur der alten Amme, ein aus anderen Bildern des Rubens bekannter Typ, der hier der jungen Schönheit der drei unbekleideten Kekropiden als Folie dient. Nur eine leise Andeutung des tragischen Ausgangs der Sage ist durch einen den Verrat „ausposaunenden“ Putto (erster Zustand des Bildes) und die fortflatternde Krähe gegeben (zweiter Zustand). Jordaens’ Antwerpener Bild von 1617 (Leo van Puyvelde, Burl. Mag. 69, 1936, 225f.) zeigt bereits den Einfluß dieser Version des Rubens, die auch in dem Wiener Spätwerk des Jordaens (Kh. Mus. Inv.Nr. 6488: ohne die Alte; Gem.Gal. im Kh. Mus. zu Wien. Erwerbungen 1920–1923, Wien 1924, Abb. 33) noch nachklingt. Ein großes Fragment von Rubens’ zweiter Fassung des Themas (etwa 1632–35 entstanden, 1677 beim Hzg. von Richelieu; aus vielen Kopien in vollständiger Form bekannt) ist heute im Allen Memorial Art Mus. in Oberlin, Ohio (Abb. 3; [5]); Anspielungen auf die folgende Tragödie fehlen hier ganz. Das Bild von Rubens’ Schüler und Nachahmer Samuel Hoffmann im Hist. Mus. Frankfurt a. M., dat. 1645 (Abb. 4; Wolfram Prinz, Gem. des Hist. Mus. Ffm., Ffm. 1957, S. 96f.), verzerrt dies idyllische Element ins Banausenhafte. Rembrandt hat das Thema mindestens dreimal beschäftigt: in zwei Zeichnungen der dreißiger Jahre (Benesch Bd. 1, Nr. 149 und 150) und einer von ca. 1648 (ebd. Bd. 3, Nr. 622); es sind neben Tempestas Stich, dem davon abhängigen Gem. des Salvatore Rosa (Oxford, Christ Church Nr. 171) und einem verschollenen Bilde von Paulus Bor die einzigen bekannten Darstellungen, die etwas von dem Grauen der Szene vermitteln. Weitere Gemälde des Themas existieren u. a. von Jan Lievens (mit einer von ihren Schwestern zurückgehaltenen Aglauros und nur halb geöffnetem Korbe; Hans Schneider, J. L., Haarlem 1932, Nr. 85), Hendrick Heerschop (Amsterdam, Rijksmus.), Godfried Schalcken (Hofstede de Groot Bd. 5, Nr. 75) und G. de Lairesse (Oslo u. Notre Dame, Indiana); für weitere Beispiele siehe Pigler [10]. Der Name der einen Kekropstochter, Pandrosos, hat schon früh (um 500: Fulgentius Planciades, Mitologiarum libri tres, II, 11; Opera, rec. R. Helm, Lpz. 1898, S. 51) zu Verwechslungen mit Pandora Anlaß gegeben. Ein „Korfken van Bandora“ von Rubens wird 1702 erwähnt (J. Denucé, Art-Export in the 17th C. in Antwerp. The Firm Forchoudt, Antwerpen 1931, S. 259), und eine E.-Zeichnung von Salomon de Bray im Fodor-Mus. Amsterdam, 1663, ist noch neuerdings als Pandora aufgeführt worden (Marburger Jb. 11/12, 1938/39, S. 403 u. Abb. 41 S. 352; mit Statue der Athena; s.a. [9]).

III. Erichthon(ius) als Erfinder

Mehrere antike Autoren schreiben E. die Erfindung des Wagens und der Quadriga (Vergil, Georgica III, 113f.) oder nur die der Quadriga zu (Plinius, Nat. Hist. 7, 202: ed. Carolus Mayhoff, Lpz. 1875, Bd. 2 S. 51; s.a. [1], Sp. 443f.). Den Anlaß hierzu sieht Servius in seinem Vergilkommentar im Bemühen des E., seine entstellten Beine zu verbergen. Dem MA und der Neuzeit wurden die antiken Vorstellungen u. a. durch Isidor von Sevilla (Etymologiae V, 39, 10 und XVIII, 34), Boccaccio (Genealogia deorum XII, 71: ed. Vincenzo Romano, Bari 1951, Bd. 2 S. 625.22–25), Polidoro Vergilio (De rerum inventoribus II, 12: Ausg. Basel 1546, S. 118) und Rabelais überliefert (Seznec S. 277; engl. Ausg. [= Bollingen Series 38], New York 1953, S. 311 Anm. 85). Da E. als Sternbild an den Himmel versetzt wurde (vgl. Hyginus, Poetica astronomica II, 13; Isidor von Sevilla, Etymologiae III, 71, 34), ist seiner auch in Darstellungen von Sternbildern bisweilen gedacht; E.-Bilder können zur Wiedergabe des „Fuhrmanns“ (auriga, agitator) dienen (z. B. London, B. M., Add. Ms. 41 600, astronomische Sammel-Hs., fol. 45, um 1455 in Oberitalien entstanden: Fritz Saxl u. Hans Meier, Verz. astrolog. und mytholog. ill. Hss. des lat. MA III, 1, London 1953, S. XLIII Abb. 16). Vgl. im übrigen Sternbilder.

Bildliche Darstellungen des E. als Erfinder kommen als Illustrationen zu Vergils Georgica vor, etwa in der von Seb. Brant herausgegebenen Vergil-Ausgabe Straßburg 1502 (Abb. 2) dieser Holzschnitt des Hier. Greif (?; vgl. Thieme-Becker Bd. 14, S. 574f.) ist in anderen Vergil-Ausgaben wiederbenutzt (so in denjenigen von Jodocus Badius Ascensius, Straßburg 1517, Bl. 114, und von Augustinus de Zannis, Venedig 1519, Bl. 89v) oder auch vereinfachend kopiert worden (Petrus Vidovaeus [Hrsg.], Paris 1529, Bl. 91v). Auch Hartmann Schedel gedenkt in seinem „Buch der Chroniken und Geschichten“, Nürnberg 1493, Bl. 34 (Faks.-Ausg. Lpz. 1933), des E. als des Erfinders des Wagens und läßt den „fuerst der Athenier“ gekrönt und mit einem Rad als Attribut darstellen. Giorgio Vasari gab dem E. einen Wagen als Attribut (Zchg. v. J. 1566: A. M. Nagler, Theatre Festivals of the Medici 1539–1637, New Haven und London 1964, S. 30f., Abb. 19).

Zu den Abbildungen

1. Paris, Bibl. de l’Arsenal, ms. 5069 (Ovide moralisé), fol. 19, die Kekropstöchter empfangen Erichthonius von Athena. Frankreich, 1. H. 14. Jh. Fot. Warburg Inst., London.

2. Hieronymus Greff (?), Erichthonius als Erfinder. Holzschnitt, 8,6 × 13,8 cm. Ill. zu Seb. Brant (Hrsg.), P. Virgilii Maronis opera, Straßburg (Joh. Grüninger) 1502, Bl. 89v. Fot. Walter Glock, Mchn.

3. P. P. Rubens, Auffindung des Erichthonius, Fragment. Öl a. Lwd., 1,10 × 1,03 m. Oberlin, Ohio, Allen Memorial Art Mus. Um 1632–35. Fot. M. Knoedler & Co., New York.

4. Samuel Hoffmann, Auffindung des Erichthonius. Öl a. Lwd., 1,55 × 2,59 m. Frankfurt a. M., Hist. Mus., Inv.Nr. B 224. Ehem. signiert und datiert. 1645. Fot. Mus.

Literatur

Zu I: 1. Pauly-Wissowa VI, 1, Sp. 439–46. – 2. Roscher 1, Sp. 1303–08. – 3. Benjamin Powell, Erichthonius and the three Daughters of Cecrops (= Cornell Studies in Classical Philology 17), Ithaca, N.Y., 1906. – 4. Murray Fowler, The Myth of Erichthonios, Classical Philology 38, 1943, 28–32. – 5. Hunger, 19554, S. 106f.

Zu II: 6. Henkel, Ovid. – 7. Ludw. Burchard, Rubens’ „Daughters of Cecrops“, Allen Memorial Art Mus. Bull. (Oberlin College) 11, 1953/54, 4–26. – 8. (Count Antoine Seilern) Flemish Paintings and Drawings at 56 Princes Gate London SW 7, London 1955, S. 41–43 u. Taf. 52. – 9. Dora und Erwin Panofsky, Pandora’s Box (= Bollingen Series Bd. 52), New York 1956, S. 9f. und 20. – 10. Pigler II, S. 77f. – 11. W. Stechow, The Finding of Erichthonius: An Ancient Theme in Baroque Art, in: „Latin American Art, and the Baroque Period in Europe“ (= Studies in Western Art, Bd. 3 [Acts of the 20th Internat. Congr. of the Hist. of Art, 1961]), Princeton, N. J., 1963, S. 27–35.

Verweise