Façon de Venise
englisch: Façon de Venise, crystal, Anglo-Venetian glass; französisch: Façon de Venise; italienisch: Maniera di Venezia.
Axel von Saldern (1973)
RDK VI, 1024–1048
I. Definition, Alternativbezeichnungen
F. d. V. – zu ergänzen zu verre à la façon-de-Venise (Glas in der venezianischen Art) – bezeichnet generell alles Hohlglas nicht-venezianischen Ursprungs, das den in Venedig (genauer in Murano) beheimateten Stil nachahmt. In seltenen Fällen ist auch klares Flachglas so genannt worden.
Häufig erscheint in den Quellen von 1500 an ein dem Terminus F. d. V. adäquater Begriff.
Englebert Colinet erhielt 1506 das Privileg, in Beauwelz (Hainaut, Belgien) „verres à la vénitienne décorés d’émaux et autres biaux verres ... transparents“ herzustellen (Abschrift von 1607: [23] S. 84). „Weisse Glöser“, d. h. entfärbte Gläser, waren zu der Zeit gleichbedeutend mit Glas in der venezianischen Art, im Gegensatz zum nicht entfärbten, grünlichen „gemeinen“ Waldglas, das in den nördlichen Hütten heimisch war (Privileg von 1534 für den Glasmacher Wolfgang Vitl in Hall, Tirol: [28] S. 21). So machte man auch um 1530 in Lothringen „plusieurs sortes de voirres fins en la semblance de christallins“ [22, S. 72]. Lucas van Helmont hatte um 1535 die Kunst nach Antwerpen gebracht „... de neringe van cristalyn gelasen te maken ...“ [4, S. 396], und in Sevilla entstand 1537 Glas in der venezianischen Art „lo rayado a la manera de Venecia“ [24, S. 35].
Der Begriff F. d. V. selbst scheint in den Niederlanden im 2. V. 16. Jh. aufgekommen zu sein [23, S. 88].
Um 1535 wurde die Bezeichnung „verre cristallin à l’instar de Venise“ gebraucht [23, S. 88]. 1549 erhielt der in Antwerpen lebende Cremoneser Kaufmann Jean de Lame das Privileg „... de faire verres de cristal à la mode et façon que l’on les labeure en la cyté de Venize“ [3, S. 371f.], und an anderer Stelle heißt es: „... de faire et souffler voires de cristal à la mode et fachon de Venize“ (Brief Marias von Österreich vom 27. Juli 1551: ebd. S. 373). In demselben Jahr erhielt der Bologneser Teseo Mutio das alleinige Recht für Frankreich, in St-Germain-en-Laye „... autres espèces de verreries à la f.d.V.“ herzustellen [22, S. 65]. Von M. 16. Jh. an bis weit in das 17. Jh. hinein finden sich in vielen der im Habsburger Bereich ausgestellten Privilegien zur Glasherstellung solche oder ähnlich lautende Passagen. Zu Ende dieser Periode, 1693, als das venezianische Glas schon von dem neuartigen, geschnittenen Glas Mitteleuropas verdrängt wurde, plante ein Brüsseler Glasmacher noch eine Erweiterung seiner Betriebe für „verre f.d.V.“ [20, S. 51].
Entsprechende Bezeichnungen waren auch für andere Glasarten gebräuchlich. In belgischen Preislisten um 1650 erscheinen neben Glas „bien fait à la Vénitienne“ und Wein- und Biergläsern „à l’imitation de ceux de Venise“ auch Gläser „à la façon de Lille“, „verre à l’anglaise“, große Gläser „à la façon d’Allemagne“ und Glas „à la façon des Altaristes“ [20, S. 104f.].
II. Glasherstellung in Venedig, Glasexport
Bereits im 11. Jh. arbeiteten Glashütten in Venedig ([25] S. 42–47; die Hütten wurden 1291 von Venedig nach Murano verlegt); um 1300 wurde schon das entfärbte, kristallklare Glas (cristallo) hergestellt, das den Ruf der Stadt als Glasmetropole begründete. Im 14. Jh. breitete sich der Ruhm venezianischen Glases aus; es wurde nach Flandern, Österreich (Wien), Frankreich und England exportiert.
Schon 1282 waren deutsche Hausierer „qui portant vitra ad dorsum“ mit venezianischem Glas unterwegs, und von 1364 und 1387 sind deutsche Glasimporteure bekannt [21, S. 65]. Im 14. Jh. häuften sich die Glasexporte. Im Inventar Karls V. von Frankreich von 1379 sind etliche „voirres à la façon de Damas“ aufgeführt, die vermutlich nicht aus dem Nahen Osten, sondern aus Venedig stammten [17, S. 130]. 1394 wurden fraglos venezianische Gläser nach Flandern ausgeführt [25, S. 101], und 1399 wurden auf zwei venezianischen, in London liegenden Schiffen Gläser verkauft [2, S. XXXVI]. Seit E. 15. Jh. wurden in Venedig Emailgläser für den Export hergestellt. Das früheste bekannte Glas dieser Gattung ist der für König Matthias Corvinus von Ungarn † 1490 bestimmte Pokal (ehem. Breslau: RDK V 68, Abb. 2), dem im 1. Dr. 16. Jh. viele ähnliche folgten [32, S. 33, 35]. – Neben den Trinkgläsern wurden außerdem viele Scheiben aus klarem Glas nach dem Norden exportiert, wo sie wegen ihrer Durchsichtigkeit begehrt waren.
In Venedig erreichte im 15.–17. Jh. das Hohlglas eine unerreichte Stufe technischer Perfektion und kunsthandwerklichen Reichtums.
Die Venezianer „gaben dem Material verschiedene Farben und unzählige Formen. Da kamen Schalen, Becher, Kannen ..., alles Dinge, die die Menschheit erfreuen. ... Es gibt keinen Edelstein, der nicht dank der Geschicklichkeit der Handwerker nachgebildet werden könnte“ (Marc. Anton. Sabellico, De situ urbis Venetae [ca. 1495], zitiert bei [2], S. XXXVIII). In einer Predigt des Pfarrers Joh. Mathesius heißt es vom Glasmachen: „... von danne heut des Venedisch glaß in allerwelt beschrieren ist/ denn do macht man die schönsten trinckgeschirr/ die kleristen fensterscheuben die hellisten brillegleser ...“ (zitiert nach: Die Predig von dem Glaßmachen [Die fünfftzehende Predigt/ Vom Glaß vnd Glaßmachen/vnnd der gefeß / so die heilig Schrifft gedenckt/...], Nürnberg 1562 [Neudr. der Ausg. 1578: Mchn. 1927], Bl. 24v).
Im 17. Jh. beschrieb René François, Kaplan Ludwigs XIII., venezianisches Glas: „Mourano de Venice a beau temps d’amuser ainsi la soif et remplissant l’Europe de mille et mille galanteries de verre et de chrystal ...; on boit un navire de vin, une gondole; on avale ... un clocher, un tonneau, un oiseau ..., toute sorte de bestes potables et non potables ...“ [19, S. 170].
Die Formen waren vielfältig: *Schalen mit und ohne Fuß, Becher, *Kannen, zylindrische und gebauchte, mit Füßen versehene Pokalvasen, *Scherzgläser in den verschiedensten Gestalten, *Tafelaufsätze wie Schiffe, besonders aber Weingläser oder *Pokale, deren Umrisse von der einfachen konischen Kuppa mit Balusterschaft bis zu den kompliziertesten und verschnörkeltsten Formen reichen. Neben dem fragilen, entfärbten „cristallo“ gab es weißes („lattimo“), bunt gefärbtes und Halbedelsteine – besonders aus der Familie der Chalzedone – imitierendes Glas. Die Oberfläche konnte mit farbigen Auflagen verziert werden, die wiederum gemodelt, gekniffen oder mit farbigen Durchschüssen versehen sein konnten. Die Oberfläche wurde abgeschreckt oder über Glasstaub gerollt (Eisglas: RDK IV 1167–71). Das ganze Gefäß oder nur der Schaft konnte in eine Form geblasen (z. B. Schäfte mit Masken oder Löwenköpfen) und – wenn gewünscht – nach Entnahme aus der Form weiter „optisch“ geblasen werden, um der Oberfläche bestimmte Muster aufzudrücken, z. B. Rippenmuster. Das erkaltete Gefäß konnte bemalt (Kaltmalerei), emailliert (Emailglas: RDK V 65–84, bes. Sp. 68f.) oder mit dem Diamanten geritzt werden. Eine vermutlich um 1530 in Venedig wieder eingeführte (bereits in hellenistischer Zeit bekannte) Dekorationsart bestand in der Einschmelzung von meist weißen, aber auch bunten Fäden in die Glasmasse (Fadenglas, Sp. 1048 bis 1059).
III. F. d. V.
A. Allgemeines
Die Geschichte des F. d. V.-Glases setzte ein mit den ersten Imitationen venezianisch-muranesischen Glases auf nicht-venezianischem Boden. Im Gegensatz zum groben, unreinen, grünen Gebrauchsglas nördlich der Alpen vermochte das venezianische Glas dem Luxusbedürfnis der reichen Schichten Genüge zu tun. Die Klarheit und Reinheit des Materials, die Eleganz und Vielfalt der Formen, die komplizierten, nur den Venezianern geläufigen Dekorationsmöglichkeiten waren überall in Europa bewundert.
Es ist verständlich, wenn sich schon frühzeitig andere Glashütten, etwa im Habsburger Herrschaftsbereich oder in Frankreich, bemühten, venezianisches Glas nachzuahmen oder wenigstens versuchten, dessen vielgerühmte Klarheit in der eigenen Produktion zu erreichen. So wurden zahlreiche Hütten gegründet, die sich auf F. d. V.-Glas spezialisierten: in Österreich zuerst 1428 (Wien), in Deutschland um 1535 (Nürnberg?), in Spanien 1537, in den Niederlanden 1541 (Antwerpen), in England 1549 (London), Frankreich 1551, Böhmen 1557. In allen Ländern folgten auf die Erstgründungen zahlreiche weitere. Außerdem arbeiteten vermutlich die – bereits im 13. Jh. tätigen – Hütten in Treviso, Padua, Mantua, Ferrara, Ravenna und Bologna und die Werkstätten des 16. und 17. Jh. in Rom, Neapel, Mailand, Verona, Parma, Brescia, Trient, Turin und Genua im venezianischen Stil [21, S. 112f.], Produkte dieser Hütten wären demnach ebenfalls als F. d. V. zu bezeichnen, wenn auch heute kaum mehr ein Stück dieser Produktion identifizierbar sein dürfte.
Die älteste bekannte Schriftquelle ist das Privileg für E. Colinet von 1506 (s. oben Sp. 1024f.). Zweifellos gab es aber schon früher Versuche, das kristallklare Glas aus Venedig nachzuahmen. In der niederländischen Malerei des 15. Jh. sind häufig Gefäßformen, zumeist bauchige Flaschen, Vasen und Becher aus entfärbtem Glas, dargestellt, die Affinität zur venezianischen Produktion haben, jedoch oft aus einheimischen Hütten stammen mögen.
Dazu wurden seit dem 15. Jh. italienische Glasmacher, besonders aus Murano und Altare bei Genua, angeworben. Von ihnen durfte erwartet werden, daß sie Glas à la F. d. V. täuschend ähnlich herstellen konnten. Dabei erwies sich als schwierig, Handwerker aus Murano selbst zu bekommen, weil diesen unter Androhung schwerer Strafen verboten war, auszuwandern. Trotzdem findet man schon im 16. Jh. venezianische Glasmacher in mehreren Hütten im Norden. Leichter war es, sich der Glasleute von Altare zu versichern, deren Wanderlust im Gegensatz zu Venedig von ihrer Heimatstadt gefördert wurde und die sich besonders in Frankreich niederließen.
Großen Einfluß übte Antonio Neris wichtiger Traktat „L’arte vetraria...“, Florenz 1612, aus, der 1662 ins Englische, 1668 ins Lateinische und 1678 ins Deutsche übersetzt wurde.
Man war bestrebt, Glasqualität, Formenkanon und Stilelemente der Ornamentik Venedigs aufzunehmen und erreichte dabei künstlerisch und technisch oft das erstrebte Vorbild. Original und Wiederholung sahen sich zum Verwechseln ähnlich und können heute erst recht oft nicht voneinander unterschieden werden. Nur bei wenigen dokumentierten Gläsern (die englischen Verzelini-Pokale, eine Kassler Vase, s. unten), bei einigen Sonderformen (*Flügelgläser, spanische Gefäße) und einem vom Üblichen abweichenden Dekor (Art der Kaltbemalung in Österreich) ist die Trennung des F. d. V. von „echtem“ Muraneser Glas möglich.
Die früheste Gruppe heute bestimmbarer Hohlgläser, die in Venedig entwickelte Formen und Dekorationsprinzipien aufnahmen und fortführten, sind die *Emailgläser des 16. Jh. in Österreich und Süddeutschland, vornehmlich Stangengläser und Fußbecher. Sie sind in Technik, Glasqualität und Stil der Malerei den venezianischen Vorbildern ebenbürtig und daher von diesen oft kaum zu unterscheiden [32, S. 44 und 47]; ebenso verhält es sich mit einer Reihe von französischen und spanischen Emailgläsern des 16. Jh. ([22] S. 72f.; [24] S. 12f.). Zu den hier zu nennenden Beispielen: RDK V 70 und 73f.; Abb. 3; auch [32], Abb. 14, 16f., 32, 34, dazu S. 44 sowie Kat.Nr. 2; [30] Kat.-Nr. 236; [34] Kat.Nr. 138; [27] Abb. 30; [33] Kat.Nr. 169.
E. 17. Jh. wurde das dünne, sehr fragile venezianische Glas in seiner übertrieben wirkenden Ornamentierfreudigkeit als unmodern empfunden und von dem schweren und reineren mitteleuropäischen Pottascheglas und dem englischen Bleiglas („crystall“) verdrängt, deren spiegelnde Leuchtkraft durch reichen Schliff und Schnitt erhöht wurde. Damit enthob sich der Wunsch, das altmodische F. d. V.-Glas in den Hütten nördlich der Alpen noch weiter herzustellen. Der wohl letzte große Import venezianischen Glases, die Ankäufe Kg. Frederiks IV. von Dänemark in Venedig für Schloß Rosenborg 1708–09, wird in Mittel- und Westeuropa als skurril und wenig nachahmenswert angesehen worden sein (Gudmund Boesen, Venetianske Glas pa Rosenborg, Kopenhagen 1960). Das bemalte, porzellanartige Milchglas der Miotto-Werkstatt (2. V. 18. Jh.: Robert J. Charleston, Souvenirs of the Grand Tour, Journ. of Glass Stud. 1, 1959, 63–82) oder die großen, ornamentalen Kronleuchter waren als Exportware weiterhin gefragt, aber Imitationen venezianischer Produktion lohnten sich nicht mehr. Im Gegenteil: Venedig begann im 18. Jh. seinerseits, mitteleuropäisches Schnittglas zu kopieren, um Anschluß an den Markt zu finden.
Als Nachwehen des F. d. V.-Glases kann man schließlich die E. 19. Jh. etwa in der Hütte von Köln-Ehrenfeld [Preis-Courant der Rheinischen Glashütten-Actien-Gesellschaft in Ehrenfeld bei Cöln Der Name des Attributs „[Ort“ enthält das ungültige Zeichen „[“, das nicht hierfür verwendet werden kann.], Abtheilung für K.-Erzeugnisse ..., October 1881, S. 18–26; dgl. Februar 1886, mehrfach, mit Nachtrag November 1888) und bei Lobmeyr, Wien (Robert Schmidt, 100 Jahre österr. Glask., Wien 1925, S. 50), produzierten Gläser ansehen, die Originale des 16. und 17. Jh. imitieren.
Asche der spanischen Barilla von Alicante (nahe Barcelona), die als Alkalien ein notwendiger Bestandteil für das klare und reine „cristallo“ venezianischer Art war, wurde im 16. Jh. in viele Länder, einschließlich nach Venedig, exportiert.
In der Beurteilung von F. d. V.-Gläsern muß auf zwei Probleme hingewiesen werden:
1) Die Erzeugnisse italienischer Hütten des 16. und 17. Jh. außerhalb Venedigs sind fast durchweg unbekannt oder unerkannt, z. B. das Glas von Altare oder von Florenz (Guido Taddei, L’arte del vetro in Firenze e nel suo dominio, Florenz 1954). Sicherlich lehnten sie sich an venezianische Formen an. Italienisches F. d. V.-Glas ist also heute kaum identifizierbar. Es ist heute schwer möglich, den Stil der Altaristen von dem der Venezianer zu unterscheiden, so daß jetzt unter F. d. V. auch Glas subsummiert werden muß, das ursprünglich „à la façon d’Altare“ benannt gewesen sein mag. Daher ist es auch unmöglich, z. B. von Altaristen im Norden hergestellte Gläser von denen von Venezianern und ihren einheimischen Gehilfen ebenfalls im Norden produzierten Stücken zu unterscheiden.
2) In den meisten Fällen ist das „echte“ venezianische Glas dem nachgeahmten F. d. V.-Glas zum Verwechseln ähnlich. In einer Geschichte des F. d. V.-Glases wird deshalb manches Glas falsch angesprochen; so kann ein anscheinend sicher als F. d. V.-Glas erkanntes Stück auch aus Venedig selbst oder von einem Glasbläser aus Altare oder einer anderen italienischen Hütte stammen.
B. Länder
1. Österreich
Die älteste wahrscheinlich nach Venezianerart tätige Werkstatt in Österreich war die vom Muranesen Onofrius de Blondio in Wien 1428 gegründete Hütte (Hans Zedinek, Wiener Glashütten des 15. und 16. Jh., Altes K.handwerk 1, 6. H., 1927, 236). Die frühesten heute identifizierbaren österreichischen F. d. V.-Gläser tragen polychromen Dekor.
Ein mit dem Wappen des Salzburger Erzbischofs, Kardinal Matthäus Lang, kaltbemalter Trichterpokal, um 1536–40, in der Form den venezianischen Vorbildern gleich, wird wohl in der 1534 gegr. Glashütte in Hall bei Innsbruck entstanden sein, „... darinnen die weissen gleser zu machen“ seien [28, S. 21]. Die Haller Hütte hatte sich unter Sebastian Höchstetter (ca. 1540–69) auf F. d. V.-Glas spezialisiert, wobei besonderer Wert auf die Einfuhr guter Asche aus Spanien gelegt wurde, die die hohe Qualität des Glasmaterials garantierte. In Wien wurde 1552 eine Hütte für die Herstellung von F. d. V.-Glas eingerichtet, deren Erzeugnisse „... zimblich schön und der güte nach den muranesischen glösern nit ungleich ...“ waren [28, S. 35]. Ebenso stellte die Innsbrucker Hofglashütte (1570–91) F. d. V.-Glas her. Diese Hütten waren zumeist mit Handwerkern aus Murano und Altare besetzt, deren Namen bekannt sind.
Die heute in Wien und auf Schloß Ambras aufbewahrten Gläser geben eine Vorstellung von der Produktion der von 1534 bis E. 16. Jh. operierenden Hütten (allerdings sind nicht alle heute der Haller Hütte zugeschriebenen Gläser tatsächlich in Hall entstanden). Neben den Emailgläsern sind es Trichterpokale und Teller, gebauchte, eiförmige und zylindrische Vasenpokale, flache Fruchtschalen auf formgeblasenen Schäften (Abb. 6; auch mit Masken oder Löwen) sowie viele Variationen des reichen venezianischen Trinkgläserkanons. Erzherzog Ferdinand II. selbst hat 1583 einen glockenförmigen Becher geblasen, der in Form und Glasqualität ein typischer Vertreter des F.d.V. ist [28, Abb. 49].
Eine sich deutlich vom übrigen F.d.V. absetzende Gruppe aus dem 4. V. 16. Jh. ist charakteristisch für die Haller und Innsbrucker Produktion. Gelegentlich mit dem Wappen Erzherzog Ferdinands II. ausgezeichnet, haben diese Gläser einen anscheinend nur für die beiden Hütten typischen Dekor: auf die venezianisch inspirierten Gefäßformen wird ein engmaschiges Feldermuster in kalter Bemalung (besonders rot und grün) und Gold, kombiniert mit Diamantgravur, gesetzt („vergolte zugwerch“; Abb. 4). Habsburger Adler, Fruchtgehänge, Girlanden, Kriegerköpfe sind die gebräuchlichen Motive. Das Glasmaterial ist meist entfärbt, seltener grün oder blau gefärbt [28].
2. übriges Deutschland
In Deutschland waren mindestens ein Dutzend Glashütten tätig, die F. d. V.-Glas erzeugten [21, S. 124–132]. Sicherlich ähnelten die Produkte solcher Hütten den im Inventar Willibald Pirckheimers von 1531 aufgeführten „... schone wellische gleser“, die auch in anderen Nürnberger Inventaren häufig verzeichnet sind (2. H. 16. Jh.: [32] S. 38). Landshut besaß von den 50er Jahren an eine Hütte, für die der aus Antwerpen stammende Bernhard Schwarz „Kristallglas ... zu machen, so zu Murano bei Venedig gemacht werden, es sei von was Farben es wolle“, ein Privileg erhielt [21, S. 126]. Von 1584 an wurde in München eine Hütte von dem Venezianer Giov. Scarpoggiato betrieben, wo „caliseti“ (Kelchgläser), „moriseti“, Schalen und Trinkgläser „mit weißen Streimen“ (Fadenglas) gefertigt wurden [21, S. 126]; diese Hütte hatte sicherlich schon Vorläufer. Schließlich gab es im 17. Jh. Hütten für Glas in der venezianischen Art in Köln (1607–vor 1611; die Produktion der dortigen Hütte war sicherlich der der belgischen Hütten nah verwandt), Kiel (1655), Dessau (1679), Königsberg (1686) und Tambach, Thüringen (17. Jh.). Beispiele: Abb. 10f.
Allein von der „Chrystallinglashütte im Weißen Hof“ in Kassel, die nur von 1583–84 in Betrieb war, sind einige dokumentierte Trinkgläser erhalten [35, S. (13–19)].
Die Hütte wurde von den Italienern Francisco Warisco (aus Venedig) und den Brüdern Frizer (Frizelius) geleitet. Warisco war „ein überaus berühmter und künstlicher glasbrenner venedischer art“, der „alle gattung glas venedischer art hat fertigen und zurichten helfen“. In den ersten 5 Wochen wurden bereits 13 390 Gläser und 3249 Fensterscheiben geliefert. Unter den Erzeugnissen sind aufgeführt: Becher mit „starcken“, „rautechten“, „blauen und weißen“ Streifen (Fadenglas), vergoldetes Geschirr, Becher „von gestreifftem glaß, mit vergulten Lewenkopfen“, Gläser „vergult im wisser zersprengt“ (Eisglas), „Imperial-Gläser“ usw. Der in Kassel aufbewahrte Deckelpokal aus Fadenglas [35, Abb. 7] scheint das am 22. Juni 1583 dem Landgrafen Wilhelm von Hessen überreichte „Glaß uff Venedische Ahrtt weiß gestreifft, so den 22. Junij Anno etc. 83 zu Caßell von solcher Gattung, daß erste gemacht“ zu sein. Einige weitere Fadengläser können ebenfalls der Hütte zugeschrieben werden. Ludwig von Oberhessen lobt die Qualität der Kasseler Produkte: „(Wir) befinden auch Zwischen solchenn und Venedischen Glesern keinen unterschiedt, unnd Hessen sie mit, unnd beneben Venedischen Glesern Paßieren“ [35, S. (14)]. – Die Imperialgläser sind entweder emaillierte Reichsadlergläser oder, was wahrscheinlicher ist, als Adler- oder *Flügelgläser anzusprechen, eine Gattung, die in Venedig nicht beheimatet war (im Museum von Murano steht kein Flügelglas!). Eine Anzahl dieser Gläser wird in Kassel aufbewahrt und mag aus der Produktion von 1583–84 stammen.
3. Niederlanden
Besonders in den Niederlanden wurde venezianisches Glas täuschend nachgeahmt; die niederländischen Fabriken waren in der Fertigung des F. d. V.-Glases führend, wie wir aus den ausführlichen Quellenstudien Houdoys, Schuermans, Pincharts und Chambons wissen. Allgemein war das nachgeahmte Glas um ein Drittel billiger als das venezianische (1623; [1] S. 55).
Anscheinend wurde in Beauwelz schon vor 1506 Glas im venezianischen Stil geblasen [23, S. 80]. In Antwerpen war eine F. d. V.-Hütte seit 1541 in Betieb, weitere standen in Lüttich (seit 1569), Middelburg (15 81), Amsterdam (1597), Brüssel (1622), Haarlem (1667) und den Haag (1668); viele andere folgten. Die produktivsten Werkstätten standen, außer in Brüssel und Lüttich, in Antwerpen.
In Lodovico Guicciardinis „Description de tout le Païs-Bas“, Antwerpen (1568), wird die Antwerpener Produktion von „vaiselles de voire à la Vénitienne“ lobend erwähnt, und in der franz. Ausgabe Antwerpen 1582 heißt es: „L’admirable fournais où sont faits les voirres crystallins de toute sorte à l’imitation de Venise“ (nach: Antwerpsch Archievenblad [= Bull. des Archives d’Anvers] 13, o. J. [ca. 1887], S. 447). In Joh. Wilh. Neumayr, Des durchlauchtigen ... Fürsten ... Johann Ernst des jüngeren, Herzogen zu Sachsen ... Reise im Frankreich, Engelland und Niederland, Lpz. 1620, wird nach der Besichtigung einer Antwerpener F.d. V.-Fabrik berichtet, daß deren Erzeugnisse den Gläsern aus Murano und Venedig fast gleichkämen und von Italienern geblasen seien (nach [5], S. 356). E. 16. Jh. – A. 17. Jh. wirkten in Antwerpen Ambrosio Mongardo und sein Nachfolger Gridolphi, deren Hütten vornehmlich mit Italienern besetzt waren (Antwerpsch Archievenblad [= Bull. des archives d’Anvers] 14, o. J. [ca. 1889], 128f.).
Dem durch Veröffentlichung des Quellenmaterials heute gut bekannten, in Antwerpen wirkenden Philippe Gridolphi wurde 1599 erneut das alleinige Recht verliehen „... de faire voires de cristal à la fachon de Venise“. In einer abermaligen Verlängerung von 1600 ist verboten, „... l’entrée et apport de tous voires contrefaicts à la f.d.V. ...“, die in Nachbarstädten eifrig hergestellt wurden ([1] S. 42f.; schon 1571 waren „... twee groote witte tonnen met Luyksche gelaesen, gecontrefeyt naer de Veneetsche gelaesen ...“ in Antwerpen beschlagnahmt worden, die aus Lüttich eingeführt werden sollten: [3] S. 378f.). Das Privileg von 1600 garantierte Gridolphi, daß „... chascun voire (F.d.V.) ... contrefaict, vendu ou faict vendre ...“ mit 6 Gulden Strafe belegt werden würde [4, S. 392]. – In einem Privileg von 1629 für Jean Baptiste Lernens zu Antwerpen heißt es: „... défendant bien expressément l’entrée de tous voires estrangers de cristal, contrefaicts à ceux de Venise ...“ (Antwerpsch Archievenblad [= Bull. des Archives d’Anvers] 14, o. J. [ca. 1889], S. 162). Schließlich berichtet ein Privileg von 1607 „... on practique de contrefaire les dits voires de Venise sy punctuellement, qu’à grande peine les maistres scauroient juger de la différence“ [1, S. 46]. Gridolphi und sein Partner Jean Bruninck waren 1607 die einzigen mit dem Recht „... de faire apporter et amener voirs de Venise“, wobei häufig das echte vermischt mit dem nachgeahmten – „...que présentement les vrais voires de Venise meslés de contrefaicts“ – zusammen verkauft wurde. 1623 erhielt Antoine Miotti in Brüssel das Privileg „... de faire les verres, vases, couppes et tasses de fin cristal de Venise, de toutes sortes de couleurs à boire vins et bières; de la même bonté, perfection et matière, comme se font au dit Venise et de la quintacensia de la barilla et du soda parfaict et réal et non contrefaict ...“ [1, S. 41f.].
Wenn auch die F. d. V.-Luxusglasproduktion den ersten Platz einnahm, wurden daneben auch „gros verre“ und „verre à la façon d’Allemagne“ hergestellt. In Lüttich betrieb in der 2. H. 17. Jh. die bekannte Familie der Bonhommes drei Hütten, von denen jede auf eine dieser Kategorien spezialisiert war; dort wurde auch streng zwischen F. d. V. und à la façon d’Altare unterschieden (Hélène van Heule, Les maîtres verriers italiens aux fours Bonhomme à Liège de 1638–1687, Ann. du 1er Congr. International d’Étude Historique du Verre des „Journées Internationales du Verre“, Lüttich 1958, S. 133 bis 143).
*Flügelgläser vorwiegend aus den Niederlanden, aber auch aus Kassel und Köln (?), sind die profiliertesten Vertreter des nördlichen F. d. V.-Glases und müssen um die Zeit der Kassler Hüttengründung, d. h. um 1580, bis E. 17. Jh. gefertigt sein (Abb. 9).
In den Niederlanden hießen diese Flügelgläser richtiger „verres à serpent“, da die Schaftwindungen Schlangen ähneln. Glasqualität, Dekorationsmittel (vorgeformte Fäden, bunte Einlagen, gekniffene Flügel) und Kuppaformen sind aus Venedig übernommen, während die Kombination dieser Elemente in Form von Flügelgläsern eine typisch nordische Erscheinung ist.
Eine kleine Gruppe von „verres à serpent“ mit dreidimensionalen, spiralgewundenen Schäften – der manieristischen „figura serpentinata“ verwandt – können als Vorläufer der Flügelgläser mit ihren in die Fläche projizierten Schäften gelten und sind vermutlich um 1570–90 entstanden. Sie sind wohl auch nördlicher d. h. niederländischer Herkunft, obwohl ihre hohe Qualität für Venedig zu sprechen scheint (Exemplare in Bonn, Corning N. Y., Düsseldorf, Hamburg, Hartford Conn., London, Lüttich, Paris, Prag und Stockholm [3 Stück]).
Eine weitere Gruppe von Flügelgläsern mit „geknäuelten“ Schäften [31, S. 93–96] ist ebenfalls in den Niederlanden entstanden; gerade diese erscheinen gelegentlich in niederländischen Stilleben des 17. Jh.
In Brüssel wurden von 1659 bis 1663 426 000 gewöhnliche Gläser, fast 43 000 „verres à la vénitienne“ und fast 8000 „verres à serpents“ verkauft, ein Hinweis, daß Gläser in der venezianischen Art von Flügelgläsern unterschieden wurden ([11] S. 245; [20] S. 81).
Andere F. d. V.-Hohlglasformen sind durch den „Catalogue Colinet“ bekannt, der – 1550–55 abgefaßt – Skizzen der Produktion der Hütte von Beauwelz wiedergibt. Unter diesen finden sich neben verschiedenen Glasformen venezianischer Art Tafelaufsätze in Schiffsform (vgl. Abb. 7) und Kannen und Pokale mit formgeblasenen Löwenköpfen, die mit den in Murano hergestellten identisch sind (Abb. 2 a-c; [23] Taf. O und P). In den Quellen werden in Lüttich Trinkgläser in Form von Schiffen und Gondeln, Pyramiden, Glockentürmen usw. genannt (Zeit Ludwigs XIII.; [18] S. 378). Von dort sind auch aus Preislisten von 1665 bekannt „Verres à la vénitienne, flûtes ordinaires, verres à serpent, coupes toumassines à un serpent, coupes à trois piliers, verres à bêtes, verres à fleurs“ [7, S. 317ff.]. Zwischen 1667 und 1673 sind in Brüsseler Listen Gläser mit 1 oder 2 Tieren, mit 1 oder 2 Schlangen, emaillierte Gläser und Fadengläser aufgeführt [23, S. 114 Anm. 1]. Schließlich berichtet Filips van Zesen: „Alda siehet man die allerfeinesten und klähresten Kristalgläser, welche den Venedischen mit nichten weichen. Alda siehet man gläserne flöhten, röhren, pokähle ..., teils gantz weis, eben als Porzelein, teils von andern Farben, bald blau, bald roth, bald mit vielfärbigen strichen durchzogen“ (Beschreibung der Stadt Amsterdam, Amsterdam 1664, S. 210f.; zitiert nach [21], S. 119). All die hier aufgeführten Formen und Dekorationsarten sind typisch für die F. d. V.-Glasproduktion, wobei fast jeder genannte Typ durch ein entsprechendes Glas oder eine Gruppe von Gläsern vornehmlich in belgischen und holländischen Sammlungen vertreten ist (Brüssel, Amsterdam, Lüttich; ein Eisglas: Abb. 12). Erhalten sind hohe Flöten auf Baluster- oder gemodelten Schäften, flache Teller, zylindrische Becher, Guttrolf-Flaschen, Sturzbecher mit Silbermontierungen, Fußschalen, Kannen und reich profilierte Pokalvasen (vgl. Abb. 8). Besonders aber die in einer unendlichen Formenvielfalt geblasenen Pokale mit Baluster-, Flügel- oder stufenartig geformten Schäften, mit spitzer, konischer, glockenförmiger, eingezogener oder tellerartig ausgeweiteter Kuppa zeigen das F. d. V.-Glas in seiner reinsten Ausprägung.
4. Spanien
Auch in Spanien wurde im 16. Jh. das einheimische F. d. V.-Glas dem in Venedig produzierten Glas gleichgesetzt (José Gudiol Ricart und Pedro M. de Artíñano y Galdácano, Vidrio: Resumen de la historia del vidrio, Cat. de la colección Alfonso Macaya, Barcelona 1935).
Der Spanier Juan Rodriguez hatte in Venedig gelernt, bevor er 1537 in Sevilla eine Hütte betrieb [24, S. 35]. Seit 1544 emigrierten venezianische und flämische Glasbläser nach Spanien (ebd.). Besonders Katalonien wurde in der 2. H. 16. Jh. und im 17. Jh. in der F. d. V.-Produktion führend. In Barcelona richtete Felip Amiguet eine Hütte für Kristall- und farbiges Glas im venezianischen Stil ein (ebd. S. 37). Ebenso wie in anderen Ländern wurden die Hohlgläser auf venezianische Art verziert. Die frühesten nach Spanien lokalisierten dekorierten Gefäße (um 1500) tragen Emailschmuck und sind auch in der Form venezianischen Mustern angeglichen (ebd. Farbtafel). In Sammlungen wie der des Herzogs von Alburquerque (1560) befanden sich Gläser aus Venedig und Barcelona, aber auch aus Deutschland (Juan Ainaud de Lasarte, Cerámica y vidrio, Ars Hisp., Bd. 10, Madrid [1952], S. 351). Die span. Übersetzung von „La piazza universale“ des Tommaso Garzoni, Madrid 1615, beschreibt die Fertigung von weißem und farbigem Glas und verschiedener Glasauflagen als Dekor (Ringe, Ketten, Perlen), die für echtes venezianisches Glas typisch sind. Andere Traktate erwähnen Eisglas. Zweifellos spanische Gläser der 2. H. 16. Jh. haben Diamantgravur [24, S. 37f.]. Das aus Venedig übernommene Fadenglas wurde besonders beliebt; nur für Spanien charakteristische Formen wie die Almorratxa oder der Cantir (Abb. 14) sind häufig durch weiße Fadenbahnen gegliedert, andere Gefäße bestehen ganz aus Fadenglas, wobei die technische Ausführung nicht immer die in Venedig oder den Niederlanden übliche Qualitätsstufe erreichte. Im allgemeinen wurde aber der venezianische Formenkanon von den spanischen Hütten übernommen. Pilgerflaschen, Schalen, Krüge, Vasen und Pokale sind den ital. Vorbildern ähnlich, gewinnen aber durch Änderung der Proportionen und Häufung plastischer Auflagen einen rustikalen Charakter. Dazu kommen A. 16. Jh. die grün-gelbe, für Spanien typische Farbgebung des Emailschmuckes und besonders im 17. Jh. eine betont rauchige, blasige Glasstruktur, durch die das spanische F. d. V.-Glas sich merklich von der venezianischen Produktion unterscheidet.
5. Frankreich
In Frankreich wurde das venezianische Glas schon früh hoch geschätzt; im Inventar des Hzgs. von Berry von 1416 ist „une certaine quantité de voirres faiz à Venise“ aufgeführt [22, S. 62]. 1532 verkauften die Brüder Domenico dem franz. König eine „certaine qualité de vaisselle de verre cristallin vénitien“ (Léon de Laborde, Renss. des arts à la cour de France, additions au tome premier, Paris 1855 [Neudr. New York 1966], S. 973; Luigi Zecchin, II vetro muranese negli scritti del cinquecento, Vetro e Silicati 7, 1963, 24).
Italienische Glasbläser traten in Frankreich zuerst in Nevers auf. Da die fürstliche Familie von Nevers ursprünglich den Gonzaga entstammte, in deren Herrschaftsbereich Altare lag, wurde Nevers zum Umschlagplatz altaristischer Glasbläser ([22] S. 65; [16] S. 68f.), deren Produkte für den heutigen Betrachter denen der Muraneser Hütten zu gleichen scheinen. Die in der Hütte des Teseo Mutio zu St-Germain-en-Laye (s. Sp. 1026) hergestellten „verres, mirouers, canons et autres espèces de verrerie à la f. d. V.“ waren in der Meinung Heinrichs II. von derselben Schönheit und hervorragenden Qualität wie die aus Venedig importierten Gläser. In der 2. H. 16. Jh. und im 17. Jh. gab es neben Nevers im venezianischen Stil arbeitende Hütten in Nantes (1572), in der Bretagne (1588), in Paris (St-Germain-des-Prés, um 1598), in der Normandie (Rouen 1605), in Orleans usw. Um die Jahrhundertwende wurden vielen ital. Glasmachern von Heinrich IV. Rechte verliehen, in Melun, Paris, Rouen usw. „... y faire toutes sortes d’ouvraiges de verre, comme ils faisoient et pouvoient faire à Venise et aultres lieux ...“ [4, S. 389], und 1642 wurde von den Erzeugnissen der Hütte der Azémar in Rouen gesagt, sie seien „... si beaux et excellents qu’ils égalent ceux de Venise“ [16, S. 103]. Um 1615 arbeiteten bereits 200–300 hauptsächlich aus Altare eingewanderte Italiener und von ihnen angelernte Einheimische in franz. Hütten, deren Produktion zum großen Teil in Luxusglas, d. h. F. d. V.-Glas bestand.
Ebenso wie in Spanien sind die frühesten identifizierbaren, das venezianische Glas imitierenden französischen Trinkgefäße emailliert (Abb. 1; [22] Abb. 36f.). Geringfügige Formabweichungen vom venezianischen Kanon, mindere Glasqualität, franz. Inschriften und ein oft leicht provinzieller Stil im Emailschmuck weisen diese Stücke als franz. Arbeiten aus. Bei den gewöhnlichen F. d. V.-Weingläsern ist die Unterscheidung zwischen der italienischen und der französischen Produktion jedoch schwer. Oft haben franz. Arbeiten einen leicht rauchiggelben oder grauen Farbton und ihre Schäfte sind häufig dünn und langgezogen. Im Stilleben mit „Gläsern im Korb“ von Seb. Stosskopf (Straßburg, Mus. des Beaux Arts, dat. 1644: Kat. „Natures mortes“, Straßburg 1964, Nr. 29) können die im typischen F. d. V.-Stil gehaltenen Pokale französische oder aus Italien importierte Ware sein.
Besonders beliebt waren marmorierte und bunte gesprenkelte Hohlgläser (oft aus Milchglas), die zusammen mit gefärbten, Halbedelstein imitierenden Gläsern und den zarten Weingläsern zur F. d. V.-Ware des 17. Jh. gehören. Aus Produktionslisten sind außerdem belegt: Schlangengläser, Pokale mit Blumen oder Tieren, Pokale mit Schäften aus gemodelten Löwenköpfen oder Lilien, Schalen, Flöten, Muscheln, Kannen, Gefäße in Form von Löwen, Hirschen, Pferden, Vögeln – Formen und Dekorationsweisen typisch venezianischer Prägung [22, S. 90]. Identische oder ähnliche Formen sind aus niederländischen und deutschen Quellen bekannt, so daß das franz. F. d. V.-Glas sich oft kaum von dem anderer Landschaften unterschieden haben wird. Nevers war im 17. und 18. Jh. berühmt für die aus bunten Glasstäben vor der Lampe geschmolzenen Figürchen (Abb. 15), die früher in Venedig vorkommen. Georg Agricola sah dort Tiere, Bäume und Schiffe aus Glas (De re metallica, Basel 1556, S. 477), die sicherlich die direkten Vorbilder für die „petits chiens de verre et... autres animaux faits à Nevers“ waren, mit denen einem Bericht von 1605 zufolge der junge Ludwig XIII. spielte [22, S. 93]. Allerdings war die Arbeit vor der Lampe schon im 15. Jh. in Frankreich bekannt. Während eines Festessens im Schloß von Lille 1454 wurde eine Fontäne aus Glas und Blei vorgeführt, die von Bäumen und Blumen umgeben war und in deren Nähe die Figur des hl. Andreas stand (Paul N. Perrot, Verre de Nevers, Antiques 59 No. 6, 1956, 562).
6. England
England. 1549 erreichten venezianische Glasbläser London über Antwerpen. Der erste erfolgreiche Glasmacher war Jacopo Verzelini, der in London 1575 das alleinige Privileg in England „... for the makynge of drynkynge glasses suche as be accustomablie made in the Towne of Morano“ erhielt ([26] S. 21; William Arnold Thorpe, English Glass, London 19673, S. 98).
Von seiner sicherlich vielseitigen Produktion ist eine Gruppe von Pokalen erhalten, die in Kuppaform und gemodelten Schäften, im dünnen Sodaglas und in der diamantgravierten Verzierung den venezianischen Vorbildern gleichen und auch große Ähnlichkeit mit den niederländischen F.d.V.-Gläsern aufweisen. Im Gegensatz zum anderen F.d.V.-Glas sind aber einige von ihnen durch Daten und englische Inschriften genau zu bestimmen. Der früheste Pokal ist 1577 datiert, ein anderer von 1583 (Abb. 5) trägt in Englisch das Motto der Londoner Zinngießer (beide Corning, N.Y., Mus. of Glass), bei einem weiteren ist der Name „John ... Dier“ sowie das Wappen der Königin Elisabeth I. eingeritzt (London, Vict.Alb.Mus.). Ein hohes, 1602 datiertes Glas mit glockenförmiger Kuppa und gemodeltem Schaft ist die wörtliche Wiederholung eines venezianischen Vorbildes und gleicht in Form und Schmuck F.d.V.-Gläsern anderer Länder (ebendort).
Im späten 17. Jh. wurden für venezianisches Glas charakteristische Motive noch einmal in dem neu von George Ravenscroft erfundenen Bleiglas angewandt. Gezwickte Auflagen, Kettenbänder und gemodelte Rippen gliedern die Gefäße. F. d. V. aber bleibt auf den Dekor beschränkt, während das dicke „crystalglass“ keine Ähnlichkeit mehr mit dem „cristallo“ venezianischer Prägung hat (sog. Anglo-Venetian glass).
In Skandinavien wurden ebenfalls F. d. V.-Hütten eingerichtet, in Schweden frühestens 1556, in Kopenhagen 1649; die große Fabrik in Kungsholm (vgl. Abb. 13) wurde von Giacomo Bernardini Scapitta 1676 gegründet. Im damaligen Dänemark (jetzt S-Schweden) wurde 1572 von einem venezianischen Meister berichtet, dessen Aufgabe es war, Glas in der venezianischen Art zu machen [29]. Von einer 1621–25 bei Örebro arbeitenden Hütte wurden Fragmente von Trinkgläsern mit formgeblasenen Löwenköpfen gefunden [25, S. 105].
Zu den Abbildungen
1. Paris, Mus. du Louvre, Inv.Nr. DS. 4921, flache Schale auf hohem Fuß. Dekor Emailmalerei, Vergoldung, Wappen Ludwigs XII. von Frankreich und der Anne de Bretagne. 21 cm h. Frankreich, wahrscheinlich zwischen 1499 und 1514 entstanden. Fot. Paris, Mus. Nat.
2 a–c. Charleroi, Slg. R. Chambon, „Catalogue Colinet“ (bebildertes Verzeichnis der Erzeugnisse der Manufakturen Beauwelz und Macquenoise), gläsernes Schiff, Geschenk für Kaiser Karl V., 1549 (a); Pokal, Geschenk für Philipp (II.) von Spanien, 1549 (b); Pokal (c). Federzchgn. auf Papier, Maße unbekannt. Zwischen 1550 und 1555. Nach [23], Taf. O a, b und e.
3. Nürnberg, Germ. Nat.mus., Inv.Nr. GL 149, Pokal. Dekor Emailmalerei, Wappen der Familie von Freiberg. 21,7 cm h., Dm. 13 cm. Süddeutschland (?), dat. 1566. Fot. Mus.
4. Coburg, K.slgn. der Veste, Inv.Nr. HA 29, Deckelpokal (Deckel verloren). Farbloses Glas, Diamantrißdekor, kalte Lackmalerei, Vergoldung. 21,5 cm h. Innsbruck (?), 3. Dr. 16. Jh. Fot. Slgn., Neg.Nr. 2514.
5. Corning N. Y., Mus. of Glass, Inv.Nr. 63.2.8, Pokal. Inschrift: IN GOD IS AL MI TRVST (Wahlspruch der Londoner Zinngießergilde), Initialen KY mit Liebesknoten. 21 cm h. London, Manufaktur des Jacomo Verzelini, dat. 1583. Fot. Mus., Neg.Nr. 63–432.
6. Mülheim, Slg. Helfried Krug, Schale auf hohem Fuß. Rauchfarbenes Glas, Diamantrißdekor. 15 cm h., Dm. 15,5 cm. Hall i. T. (?), E. 16. Jh. Fot. Slg.
7. Boitsfort, Belgien, Slg. P. Desneux, Pokal in Schiffsform. Gelbliches Glas, Tiere mit Emailmalerei, Spuren von Vergoldung. Maße unbekannt. Belgien, E. 16. Jh. Nach [23], Taf. VI, 22.
8. Brüssel, Mus. Royaux d’art et d’hist., Pokalvase. Maße unbekannt. Belgien, A. 17. Jh. Fot. A.C.L. Brüssel, Nr. 13952.
9. Hamburg, Mus. für K. und Gewerbe, Inv.Nrn. 1921,179 und 1896,13, Flügelgläser. 28 und 30 cm h. Belgien (?), A. 17. Jh. Fot. Mus.
10. Amstelveen, Slg. J. Guépin, Deckelpokal. Kaltmalerei, Vergoldung, auf der Kuppa szenische Darstellung, Wappen und Inschriftfragmente. 45 cm h. Süddeutschland, dat. 1611. Fot. Slg.
11. Neunhof, Freiherrlich von Welsersche Familienstiftung, Pokal auf sechseckigem, durchbrochenem Messingfuß. Fadenglas, Diamantrißdekor, dt. und lat. Inschriften. 19 cm h. Deutschland (?), dat. 1634. Fot. L.bildstelle Rheinland, Ddf., Nr. 174/7299.
12. Lüttich, Mus. du Verre, Inv.Nr. B/542, Eisglasbecher. 21,5 cm h. Belgien, 17. Jh. Fot. A.C.L. Brüssel, Nr. 116164.
13. Stockholm, Nat.mus., Inv.Nr. CXV 183, Deckelpokal mit Monogramm CE (Charles XI. und Ulrica Eleonore) und Krone im Schaft. 43,7 cm h.
Schweden (Kungsholm), zwischen 1680 und 1693. Fot. Mus.
14. New York, The Hispanic Soc. of America, Inv.Nr. T 358, Cantir. Rauchfarbenes Fadenglas. 26,4 cm. Katalanien (Barcelona?), E. 17. oder A. 18. Jh. Fot. Slg.
15. Düsseldorf, K.mus., Inv.Nr. 17956 bis 17961, Glasfiguren. Verschiedenfarbenes opakes Glas. 8,7–9 cm h. Nevers, 18. Jh. Fot. Mus.
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Empfohlene Zitierweise: Saldern, Axel von , Façon de Venise, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. VI (1973), Sp. 1024–1048; in: RDK Labor, URL: <https://www.rdklabor.de/w/?oldid=88856> [05.04.2022]
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