Fisch- und Vogel-Buchstaben
englisch: Letter formed of fish and bird; französisch: Lettre zoomorphe: poisson-oiseau; italienisch: Lettera formata di pesci e d'uccelli.
Carl Nordenfalk (1990)
RDK IX, 299–305
I. Definition, Voraussetzungen
Unter F. sind Zierbuchstaben in Hss. zu verstehen, bei denen Fisch(e) oder Vo(e)gel oder beide so angeordnet sind, daß sie ganz oder teilweise mit der Grundform des Buchstabens zusammenfallen. Fische sind häufiger als Vögel, da sie sich leichter den Buchstabenformen anpassen ließen.
Aus der Antike sind vor der 2. H. 4. Jh. in der Buchschrift keine Zierbuchstaben und folglich auch keine F. überliefert (vgl. [4] S. 69ff.); die bei Martialis (Epigramme XIII,75: ed. Wallace Martin Lindsay, Oxf. 21929) und Ausonius (Technopaegnion 12.25: ed. MG Auct. ant., Bd. 5,2 S. 138) vorkommenden Anspielungen auf die Ähnlichkeit des griech. Υ und Φ mit einem fliegenden oder stehenden Kranich haben keinen Niederschlag in der „Schriftkunst“ gefunden (gegen [1] S. 346). Vogel (Pfau, Taube) und Fisch I (auch Delphin: RDK III 1233-44) waren beliebte Symbole in altchr. Inschriften, jedoch berühren die Darstellungen die Buchstaben nicht. Ein solcher Kontakt läßt sich erst in Hss. des 6. Jh. belegen: Delphin und Tintenfisch hängen von den Unterlängen einiger Buchstaben in den unteren Rand eines Ziertitels hinab (Dioskurides-Hs. der Österr. Nat.bibl. Wien, cod. med. gr. 1, fol. 10v und 11: [4] Taf. 29-31; Faks.ed., mit Kommentarbd. von Hans Gerstinger, Graz 1970). Vögel hocken auf einigen Initialen im Valerianus-Evangeliar, A. 7. Jh. (München, Bayer. St.bibl., cod. lat. 6224, fol. 12 und 209: [4] Taf. 47 b und 50 c). Die gleiche lose Verbindung von Buchstaben und Tierbild lebt in byz. und ital. Initialen bis ins hohe MA weiter (ebd. Fig. 37).
Die Forschung hat die Möglichkeit einer symbolischen (christlichen oder apotropäischen) Bedeutung der F. erörtert, die jedoch mit Franz Josef Dölger, ΙΧΘΥC, Bd. 5, Münster i. W. 1943, § 34, und [4] S. 178f. abzulehnen ist. Das Vorkommen auch in Hss. profanen Inhalts und das den F. eigene spielerische Moment machen eine solche Bedeutung unwahrscheinlich.
II. Formgeschichte
A. Frühformen
Die morphologisch gesehen früheste Stufe, einen Buchstaben (oder einen Teil desselben) als Fisch zu gestalten, liegt in den unzialen A-Initialen einer ravennatischen Orosius-Hs. vor, die vor M. 6. Jh. von dem gotischen Kalligraphen Viljaric signiert wurde (Abb. 1; [4] Taf. 61-62, 65). Hier fällt der Kopf des Fisches mit der kleinen Schlinge des Buchstabens zusammen, eine Spielerei, die dem Schreiber so sehr gefiel, daß er sie wiederholte, sooft eine neue Sektion mit einem A anfing.
Solche A-Initialen kommen auch in anderen ital. Hss. vor, z. B. in einer in Rom um 600 entstandenen Hs. der „Regula Pastoralis“ Gregors d. Gr. (Troyes, Bibl. mun., ms. 504, fol. 55), wo ein Delphin mit dem Dreizack-Schrägbalken den Buchstaben ausmacht [4, Taf. 68 b].
Schon im 6. Jh. findet man auch E-Initialen mit Fischen, die sich paarweise der Bogenlinie des unzialen Buchstabens anschmiegen, so in einer ital. AugustinusHs. in Rom (Bibl. Naz., cod. Sessor. 13, fol. 149 und 186: Abb. 2; [4] Taf. V und 60 c-d).
Eine weitere Frühform von Initialen aus Fischen ist entwickelt aus Zierbuchstaben, deren runde Balken so mit dem Zirkel geformt sind, daß durch zwei sich schneidende Kreisbögen eine Mondsichelform zustande kommt (wie sie etwa im sog. Vergilius Augusteus vorliegt; Fragment in der Bibl. Vat. Rom, cod. Vat. lat. 3256, wohl Rom, 2. H. 4. Jh.: [4] Taf. 19 a, 20 a, 22 a); es bedurfte eigentlich nur der Ansetzung eines Kopfes mit dem Auge und von Flossen, um zur Fischgestalt zu kommen.
Solche im Sichelbalken selbst eingeschriebenen Fische kommen u. a. vor in einer Patres Ecclesiae Hs. in Leningrad, 2. H. 6. Jh.? (Öffentl. Bibl., ms. Lat. Q.v.I, 6-10: ebd. Taf. 75 c, 76 b und c), die wahrscheinlich in dem von Cassiodor gegründeten Kloster Vivarium entstand (vgl. Speculum 5, 1930, S. 21-48). Auch im westgot. Spanien und in Gallien entstanden im 7. Jh. Hss. mit entsprechend konzipierten Initialen [4, Taf. 73-74, Fig. 44-45].
Mit freier Hand gezeichnete Fische weist eine gallische Canones-Hs. der Dombibl. Köln auf (ms. 212); sie sind nicht nur für gebogene, sondern gelegentlich auch für gerade Buchstabenteile verwendet (zw. 590 und 604: ebd. Taf. 77-80).
Der Versuch, statt des Fisches einen Vogel einzusetzen, läßt sich im 6.-7. Jh. sowohl hier wie in einer Canones-Hs. zu Oxford nachweisen (Abb. 3); in beiden Fällen bewahrt der Vogel seine Lebensnähe.
B. Formen der Merowinger- und Karolingerzeit
In der 2. H. 7. und im 8. Jh. wurden die F. in der merowingischen Buchkunst Mode. Sie treten nicht nur zahlreich als Initialen auf, sondern auch als Zierschrift bei den großen Titelseiten (Abb. 5; [5] S. 32). Die Verschmelzung von Buchstaben- und Tierform ist inniger und nicht mehr auf wenige Buchstabentypen beschränkt. Zugleich enthalten die F. neue Elemente.
Die M-Initiale der in Luxeuil 669 geschriebenen Augustinus-Hs. der Pierpont Morgan Libr., New York, kombiniert Fische, die durch zwei seitlich übereinander geschobene Kreisbögen gebildet sind, und Vögel, deren Rücken die Rundung des Buchstabens ist, so daß sie durch den Zwang des Kreisbogens vergewaltigt werden (Abb. 4); dies im Gegensatz zu den byz. F., die sich immer mit dem runden Bauch gegen den Kreisbogen wenden und deshalb lebensnäher wirken (vgl. [4] Fig. 69). - Blatt- oder Blütenmotive als Füllornamente auch von Fischen und Vögeln, in die also die Ornamente wie „Eingeweide“ eingelegt erscheinen, sind eine weitere Eigenheit merowingischer F. (vgl. Abb. 5). Auch kommt es vor, daß der Körper oder der Schwanz eines Vogels zugleich ein Fisch ist ([4] S. 202 Fig. 63). Voll ausgebildete F. enthält das in Luxeuil um 690 entstandene „Missale Gothicum“ der Bibl. Vat., cod. Reg. lat. 317 (Leo Cunibert Mohlberg [ed.], Missale Gothicum ..., Augsb. 1929 [Codd. liturgici e Vaticanis praesertim delecti phototypice expressi, 1], Textbd. S. 56-60 mit eingehender Analyse der Initialtypen), und ein Justus Urgellensis, Expositio in cant. cant., der in Corbie für einen in Trier 704 gestorbenen Bisch. Basinus geschrieben wurde (Rom, Bibl. Vallicelliana, Cod. B 62: [2] Mappe 2 Taf. 94-98).
Um M. 8. Jh. wurden die F. mehr zu reinen Bildbuchstaben, indem die Tiere den Buchstabenkörper ganz vertreten. Als solche bilden sie im Sacramentarium Gelasianum der Bibl. Vat. Rom, cod. Reg. lat. 316, lange Zierschriftzeilen (Abb. 5; L. C. Mohlberg [ed.], Liber sacramentorum Romanae aeclesiae ordinis anni circuii, ..., Rom 1960 [Rerum ecclesiasticarum documenta, ser. maior, fontes, IV], Taf. I, II, IV, VII, VIII; Ulla Ziegler, Das Sacr. Gelas. ... und die Schule von Chelles, Archiv für Gesch. des Buchwesens 16, 1976, Sp. 1-142, bes. Sp. 50ff.; vgl. Sp. 23 Abb. 2). Mit dieser vielleicht in St-Denis, jedenfalls eher dort als in Chelles entstandenen Hs. sind verwandt die für Erzb. Hildebald von Köln (785-819) in Chelles bei Paris geschriebenen und geschmückten Codd. 63, 65 und 67 der Kölner Dombibl., die von Nonnen signiert sind: Bernh. Bischoff, Ma. Stud. Bd. 1, Stg. 1966, S. 16-33.
In der mozarabischen Buchkunst begegnen F. nach merowingischem Vorbild, zuweilen in muselmanischer Stilisierung (Abb. 6; John Williams, Early Spanish Ms. Illum., New York 1977 [dt. Ausg. unter dem Titel „Frühe span. Buchmal.“, Mchn. 1977], S. 17).
Der insularen Buchkunst sind F. fremd – auch wenn eine einzelne Initiale im Book of Durrow eine Fischform zu enthalten scheint [2, Mappe 3 Taf. 160 b unten). Der von einem Angelsachsen wohl auf dem Kontinent um 750 geschriebene Psalter der Württ. L.bibl., cod. Bibl. fol. 12 enthält jedoch zahlreiche F. (Alban Dold, Ein Stuttgarter altlat. Unzialpsalter aus dem 8. Jh., Röm. Quartalschr. 42, 1934, S. 251-77; den. [ed.], Lichtbildausg. des Stuttgarter altlat. Unzial-Psalters ..., Beuron 1936; [3] Nr. 1353). Im frühkarol. sog. Corbie-Psalter in Amiens, Bibl. mun., cod. 18 ([5] S. 40f.; Ulrich Kuder, Die Initialen des Amiens Psalters, Diss. Mchn. 1977 [masch.]) werden die F. dramatisiert (Abb. 7): der Vogel schlägt seine Krallen in den Fisch, gleich dem fischfangenden Adler, einem urspr. spätantiken, in insularen und karolingischen Hss. vorkommenden Motiv (Fl. Mütherich, Les mss. enluminés en Neustrie, in: Hartmut Atsma [Hg.], La Neustrie. Les pays au nord de la Loire de 650 à 850. Colloque hist. internat., Sigmaringen 1989 [Beih. der Francia, 16/2], Bd. 2 S. 319-338).
C. Formen seit M. 9. Jh.
In der sog. karolingischen Renss. gab man im allgemeinen die F. auf. In dt. Hss. blieben sie immerhin bis um die M. 9. Jh. in Gebrauch (Adolf Merton, Die Buchmal. in St. Gallen ..., Lpz. 21923, Taf. I-III, XIf., XIX; Katharina Bierbrauer, Die bayer. Hss.ornamentik in vor- und frühkarol. Zeit, Mchn. 1979 [Bayer. Akad. der Wiss., Phil.-hist. Kl., Abhn., N.F. H. 84]). Noch in otton. Zeit begegnen gelegentlich F. in dt. Hss. (Abb. 8). Am längsten hielten sie sich in der ital. Buchmalerei, wo sie noch im 12. Jh. vorkommen (Franç. Avril und Yolanta Załuska, Mss. enluminés d’origine ital., Bd. 1, VIe-VIIes., Paris 1980 [Bibl. Nat., Dép. des mss., Centre de recherche sur les mss. enluminés], Taf. 31 Nr. 74, fol. 115; s. auch Luccheser Hss.: La Bibliofilia 75, 1973, S. 113 Abb. 9 a, 114 Abb. 10 a, 119 Abb. 14). Hier kommen Einflüsse von byz. Hss. in Frage, in denen F. seit dem 10. Jh. häufig sind (Abb. 9; Kurt Weitzmann, Die byz. Buchmal. des 9. und 10. Jh., Bln. 1935, Abb. 133, 147, 209, 241f., 385). Sie müssen vom Westen abgeleitet werden (wobei die griech. Klöster in Rom und Unteritalien eine Vermittlerrolle gespielt haben könnten: [4] S. 202-11).
Armenische Hss. sind seit E. 12. Jh. sehr häufig mit F. dekoriert. Dies hat zu Vermutungen Anlaß gegeben, die F. könnten orientalischen Ursprungs sein. Josef Strzygowski wollte sie mit der Verwendung des Pergaments als Schreibmaterial in Verbindung bringen und nahm an, daß sie mit diesem von den Nomaden des Altai-Iran den orientalischen Ländern vermittelt wurden; die Goten hätten sie dann nach dem Westen gebracht (Altai-Iran und Völkerwanderung, Wien 1917, S. 292f.). Dafür fehlen aber die Beweise. Vielmehr lassen sich die armenischen Hss. unschwer aus den byzantinischen herleiten.
In Schriftmusterbüchern des 2. V. 19. Jh. sind gelegentlich Alphabete enthalten, die nach frühma. Vorbildern gestaltete F. zeigen, so in Jean Midolle, Écritures Anciennes d’après des mss. & des meilleurs ouvrages Exécutée A la Plume ..., Strbg. 1834-1835, Taf. 17f. (Kat. Orn. Bln., Nr. OS 5164).
Zu den Abbildungen
1. Florenz, Bibl. Laur., ms. Plut. LXV,1 (Orosius, Historiae aduersus paganos), fol. 66, A-Initiale. Ravenna, signiert Viljaric, vor M. 6. Jh. Foto Pineider, Flor.
2. Rom, Bibl. Naz., cod. Sessor. 13 (Augustinus, De Genesi ad litteram), fol. 149, E-Initiale. Italien, 1. H. 6. Jh. Foto Vivarelli, Rom.
3. Oxford, Bodl. Libr., Ms. e Museo 101 (Canones), fol. 27. Italien, 2. H. 6. Jh. Foto Bibl.
4. New York, Morgan Libr., M 334 (Augustinus, Homiliae decem super epistolam Johannis), fol. 2, M-Initiale. Luxeuil, geschrieben 669. Foto Bibl.
5. Rom, Bibl. Vat., cod. Reg. lat. 316 („Sacramentarium Gelasianum“), fol. 132. Gegend von Paris (St. Denis?), M. 8. Jh. Foto Bibl.
6. Madrid, Bibl. Nac., Cod. Vitr. 13-1 (Biblia Hispalense), fol. 201v. Spanien, um 900. Nach J. Williams a. a. O. (Sp. 303) Abb. VI.
7. Amiens, Bibl. mun., cod. 18 (sog. Corbie-Psalter), fol. 23v, A-Initiale. Corbie, E. 8. Jh. Foto Bibl.
8. München, Bayer. St.bibl., cod. lat. 6421 (Sakramentar des Bisch. Abraham von Freising), fol. 183v, D-Initiale. Baiern (Freising?), 2. H. 10. Jh. Foto Bibl.
9. Oxford, Bodl. Libr., Ms. Cromwell 19 (Johannes Chrysostomos, Kommentar zu Mt), fol. 706v. Byzanz, 2. H. 11. Jh. Foto Bibl.
Literatur
1. Anton Springer, Der Bilderschmuck in den Sacramentaren des frühen MA, Lpz. 1889 (Abhn. der kgl. sächs. Ges. der Wiss., philol.-hist. Cl., 11,4), S. 339-378. - 2. Zimmermann. - 3. Elia Avery Lowe, Codd. Lat. antiquiores ..., Bd. 1-11 und Suppl.bd., Oxf. 1934-71. - 4. Carl Nordenfalk, Die spätantiken Zierbuchstaben, Stockholm 1970. - 5. Robert Massin, La lettre et l’image, Paris 1970 (dt. Ausg. unter dem Titel „Buchstabenbilder und Bildalphabete“, Ravensburg 1970). - 6. Jonathan James Graham Alexander, The Decorated Letter, New York 1978, S. 10f. (dt. Ausg. unter dem Titel „Initialen aus großen Hss.“, Mchn. 1978).
Empfohlene Zitierweise: Nordenfalk, Carl , Fisch- und Vogel-Buchstaben, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. IX (1990), Sp. 299–305; in: RDK Labor, URL: <https://www.rdklabor.de/w/?oldid=89127> [05.04.2022]
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